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BYND

Konstantin Arnold

PARIS

PARIS

Die romantischste Stadt der Welt ist für uns eine Notlösung. Nur Mittel zum Zweck. Erst Neulich, weil wir unseren Flug in Rom verpassten und der nächste zwölf Stunden Aufenthalt in Charles de Gaulle hatte und jetzt wieder, weil wir in Lissabon leben und nach Deutschland mussten und die Deutschen denken, dass Portugal von Mutanten regiert wird. Also konnten wir nicht direkt fliegen, sondern nur bis Paris, um dann wie internationale Haftbefehle heimlich mit dem Zug einzureisen. Das erste Mal Paris war eigentlich ganz schön. Jardin du Luxembourg, früh am Morgen, metallischer Regenhimmel, typisch Paris. Beim zweiten Mal war es genauso nur noch mit Wind und all den Erwartungen, die wir beim ersten Mal nicht hatten, weil ich beim ersten Mal dachte, dass es sowieso scheiße wird, sobald ich meine angelesene Phantasie von der Stadt mit ihrer Realität vergleiche. Aber so war es nicht und diesmal konnten wir mit unseren angefangenen Erinnerungen weitermachen. Oder eben nicht. Man kann bei all den Erwartungen, die Paris aufspannen fast nur eine Scheißzeit haben, gerade als Liebespaar, und vor allem als Autor. Es fühlt sich komisch an, Autor in Paris zu sein, und dazu noch Verliebter. Ich könnte das nie länger als ein paar Tage durchhalten. Da wären zum einen die Frauen, die viel zu direkt sind. Der französische Weg ist ein direkter Weg zu den Ursprüngen der Menschheit zurück. Zum anderen die Weinpreise, die für einen Schriftsteller so wichtig sind, wie der Ölpreis für Schwerlasttanker im arabischen Golf. Mal schnell vierzig Euro für die Flasche und da hat man noch keinen Espresso für fünf Euro getrunken. Und keine Zweite. In Lissabon ist das nicht so, aber Paris muss gar nicht schlecht sein, damit Lissabon gut ist. Lissabon ist heute nur so viel mehr Paris als Paris, der Liter für vier Euro, Hallo? Wir haben das gleich im ersten Bistro miteinander diskutiert. Meine Freundin meint, das wäre schon immer so gewesen, ich sage, nein das wäre nicht so. Die Ländlichkeit wurde aus den Gassen vertrieben und aus den Gassen hat man Laufstege gemacht, mit Verkehrsschildern dran und voll mit parkenden Autos. Es ist eine ausgestopfte Kultur, die höchstens Amerikaner und Chinesen noch für die alte Welt halten, ohne Schatten, voller Schaufenstern. Ich sehe mich in diesen Schaufenstern vorrübergehen und sehe nicht gut aus. Die Stadt steht mir nicht, sie rennt an mir vorbei, ihr Parfüm weht durch Arkaden und wird von Karikaturen umhergetragen. Alle eilen irgendwo hin, nur wohin? Sie eilen in den Tod und man fühlt sich, wie man sich in einer hellen, teuren Boutique fühlt, wenn man sehr alte Klamotten trägt und stinkt und noch nicht sterben will. Paris ist eine hektische Stadt, oder mir fällt erst hier auf, wie schön langsam Lissabon ist. Wir haben halt nur nicht solche Terrassen, solche Markisen. Sie leuchten auf den Bürgersteigen wie Galaxien, Zeremonien der Zivilisation, die Bravour der Geselligkeit. Es gibt nichts Schöneres für eine Hausecke auf der Welt, als ein Pariser Eckcafé zu werden. Ein Wiener Eckcafé ginge auch, aber die Cafés in Wien finden drinnen statt, in Paris sind sie draußen. Selbst die hässlichsten sind schön. Kosmisch gemütlich, vor allem bei Nacht. So voller Leben. Normal erwachsene Männer mit normal erwachsenen Frauen, die sich in jenem Rhythmus wiegen, der die Welt bewegt. Vor einer Flasche Wein. Diese Cafés sind die Bühnen der Boulevards, auf denen das ewige Schauspiel der Menschheit aufgeführt wird. Der Wert, den dabei alles Geistreiche in Paris, ach in ganz Frankreich, einnimmt ist phänomenal. Eine Gesellschaft, die das mit dem Rauchen noch versteht, denn sie rauchen nicht wie die Deutschen, die das nicht verstehen, und sie sitzen auch nicht so im Café oder fahren mit dem Zug, sie tun das alles lebendiger, geistreicher. In den Parks wachsen Kastanien, über die man im Herbst laufen kann. Im Sommer sind die kopfhoch geschnitten. Menschen sitzen da und haben was zu klären haben. Französisch ist eine gute Sprache, um Dinge zu klären und wir wollten sowieso seit Tagen mal reden. Ich hatte mir nach einem Streit zwei Seiten notiert, aber nie den richtigen Moment gefunden, so wie man ihn unter den Kastanien findet oder den Markisen der Closerie des Lilas, oder […]

Weisse Nächte

WEISSE NÄCHTE

Es war ein schöner, sonniger Nachmittag, als wir in jenem Teil der Welt ankamen, durch den man den anderen und dann die ganze Welt besser versteht. Von einem Chauffeur und einem Bad in der Dostojewski Suite des Grand Hotel Europa trennte uns nur noch die Laune eines russischen Grenzbeamten. Die Sonne fiel durch die Fenster und heizte die Luft auf, das machte die Szenen dramatischer. Im schlimmsten Fall würden wir die Nacht am Flughafen verbringen oder einen Flug finden, den wir uns leisten können, zu einem besseren Flughafen, an dem die Männer keine Schlagstöcke tragen und die Sonne nicht so heiß durch das Glas fällt. Der Tag hatte sehr aufregend begonnen. Man wollte uns schon am Morgen in Lissabon nicht ins Flugzeug lassen. Warum weiß ich auch nicht, aber ich wusste, dass ich mir von dieser Flughafentante, mit ihrem Flughafentablet, nicht unsere Träume zerreißen lasse. Da standen wir, frühs um vier, mit all unseren Dokumenten in Urlaubsklamotten am Check-in und die Tante meinte, wir dürften nicht fliegen. Meine Freundin versuchte es unter Tränen und ich machte einen fürchterlichen Aufstand und sagte, sie müsse uns doch wenigsten die Tickets nach Paris geben, mir doch egal was ihr Flughafencomputer sagt, in dem schlägt kein Herz. Ich wusste, wenn wir einmal in Paris wären, würden wir es nach St. Petersburg schaffen und wir schafften es ja auch, so wie ich es ihr an jenem Morgen in Lissabon versprochen hatte. Jetzt mussten wir in Russland nur noch nach Russland kommen. Man nahm unsere Pässe und ließ uns stehen. Bestimmt eine Stunde. Dann kam einer mit Polizeihut und meinte, wir dürften nicht einreisen. Und wieso? Weil wir über Paris geflogen wären. Das war doch aber Transit. Er sagte, ja er wisse das, aber das wäre egal. Und nun? Wir hätten zwei Möglichkeiten, entweder wir fliegen nach Helsinki und kommen mit einem Direktflug wieder oder wir kaufen Fußballtickets für die Europameisterschaft und lassen uns eine Fan ID machen. Ja, das war das Level und wir kauften Tickets für ein Spiel, dass wir nie sahen und wurden Fans eines Landes, das wir nicht kannten und durften Einreisen. Ich hätte nie gedacht, dass mich der Klang eines Passstempels mal so glücklich machen würde. Wir sind Europäer und ich dachte daran, wie es wohl ist, keiner zu sein und wie sich Stefan Zweig damals fühlte und was er mit gültigen Papieren und seinen Büchern meinte und ich dachte an all die anderen, die nach Lissabon kamen und auf ein Visum hofften, weil sie den Krieg im Nacken hatten. Was Ost und was West bedeutet, erkennt man dort, wo sie unmittelbar aufeinander knallen. Grenzbeamte sind menschenverachtend und das schlimmste an ihnen ist: sie genießen diese Verachtung sehr. Sie sind das Erbe unsere Abgründe, das, was uns voneinander trennt und in Nationen unterteilt. Diese Leute arbeiten zwischen Gesetzen, spielen Gott. In dieser staatenlosen Welt ist man machtlos. Sie schauen einen minutenlang an und sie schauen deine Freundin noch viel minutenlanger an und fragen, ob das wirklich sie ist, da auf dem Foto und ob sie sich mal drehen könnte, und man will ihnen dafür auf die Schnauze hauen. Ich sehe sie nicht als Freundin, oder das, was ich damit verbinde, weil ich viele schlechte Männer davon reden höre. Ich sehe sie als das heiße Mädchen, was sie ist und für das ich kämpfe und das mit mir gekommen ist, weil sie mit mir kommen will und ich der Mensch bin, mit dem sie all diese Dinge tun will und all diese Orte sehen will. Man hatte uns gesagt Russland wäre kein guter Ort für die Liebe, aber das wollte ich nicht glauben. Nicht einfach so. Nicht St. Petersburg. Puschkins Weltstadt […]

AM HANG LANG

AM HANG LANG

Man schwitzt immer, wenn man oben ist. Es gibt keinen anderen Weg nach oben, der nicht bergauf geht. So ist der Largo da Graça nun mal. Am einfachsten kommt man aus Osten auf ihn hoch, dauert aber auch am längsten und wenn man aus Osten kommt, muss man aus Arroios oder Olaias auf ihn hochgekommen sein und niemand kommt aus Arroios oder Olaias gerne irgendwo hoch. Besser läuft man die Serpentinen hin zum Fluss. Dann bekommt man den Weg nach oben gar nicht so mit. Schöne Aussicht, tolle Erfindung, diese Serpentinen und wenn man ein Rendezvous hat und sich gleich küsst, muss man halt früher hochgehen und irgendwo in einer dunklen Ecke warten bis man wieder getrocknet ist. Fett wird man so nicht. Kann man gar nicht werden, bei den ganzen Hügeln und Treppen hat man sich den Wein abgelaufen, bevor man ihn getrunken hat. Rein damit, aber wo bleibt Pedro, die Sau. Ich warte schon ’ne Stunde auf den Kerl. Eins, zwei Bierchen wollten wir trinken, rumlaufen, was essen. Wo ist geheim. Darf ich nicht sagen, weil man in diesen Tagen ins Gefängnis kommt, wenn man sagt, wer für andere Leute kocht und dann dafür Geld nimmt. Ich warte und warte und warte, warte auf einem Platz, unter dem endlosen grauen Himmel eines Nordatlantiktiefs. Sitze, laufe rum. Warte und schaue in die Schaufenster. Sehe mich und denke, dass ich gar nicht so schlecht in den Fenstern aussehe. Komm, denkt doch jeder mal, wenn er was Neues anhat, aber ich denke dann noch bei wem vorbeizugehen, damit man es sehen kann. Mein neues Hemd ist blau und hat Streifen. Sieht toll aus. Drüber habe ich Hosenträger gelegt. Ich, Ich, Ich, das sagt meine Freundin auch immer. Was haben wir hier nicht für Straßenszenen gemacht, in all diesen Gassen. Stiegen, fielen, starben. Standen wieder auf, um dann noch höher zu steigen, tiefer zu fallen, ohne zu sterben, Himmel und Hölle, Senhora do Monte. Ich sehe einen Typen, so in meinem Alter, der anscheinend auch wartet, und bin froh, dass meine Freundin den nicht sehen kann. Wie gut der beim Warten aussieht, wartet viel besser als ich und sicher ohne den Scheiß, der das Warten mit mir so schwermacht, aber auch nicht so aufregend. Vorne am Geländer lehnen noch zwei Frauen. Jetzt kommt eine dazu und bringt Bier mit. Toll, wie sich die Leute in dieser Stadt begegnen, einfach so, oder lieber nicht, treffen und zusammenkommen, irgendwas zu reden haben, wie auch immer, Was für ein trister Nachmittag das ist. Das ist doch kein gewöhnliches Nordatlantiktief mehr. Der Himmel dieses Nachmittags sieht eher aus, wie der über Neapel, wenn Scirocco weht, wobei der eigentlich nicht weht, der drückt sich heran, trägt den Wind aus Afrika faul übers Meer, hält die versammelte Hitze der Wüste in den Wolken fest. Die Sonne ist seit Tagen nicht zu sehen und der Himmel ist diesig und weiß. Sieht aus wie Smog. Ein glühender dumpfer Punkt. Mehr nicht. Ein Regenhimmel, von dem keine Gefahr ausgeht: der schlimmste Himmel. Er schlägt auf dein Gemüt wie eine drohende Faust, die nur ausholt, wie Streit und wie Schnaps, und hält deine Stimmung fest im Griff und du wartest auf die Erlösung, um dich so oder so zu fühlen, aber nicht mehr so und so. Dazu noch dieses ganze Zeitumstellungsgefühl. Wie kann man die Gefüge der Welt so einfach durcheinanderbringen. Zeit und Raum, Kontinuen, unveränderbare Fakten, sind wir Gott? Es ist spät, aber hell und solange einem das auffällt, ist der Frühling frisch. Der Winter in uns überstanden. Alles poppt, aber langsam, das Schnelle ist eine Erfindung der Pornoindustrie, die es damit schafft sogar schlaue Männer […]

KOLONIAL

KOLONIAL

Wir kamen als Liebespaar auf die Blumeninsel und wollten die Blumeninsel als Liebespaar wieder verlassen. Ein paar Tage Urlaubsstreit und die Suche nach unserer portugiesischen Riviera. Die Insel eignet sich hervorragend für Verliebte. Alles ist sehr grün und sehr blau und sehr schön und das Schöne ist, dass es hier nichts Schönstes und Größtes und Erstes gibt. Die Insel kommt ohne Attraktionen aus. Hat keine Superlative nötig. Sie ist und das ist einfach schön. Man muss nur leichte Weine trinken, Blumen pflücken, die Attraktionen in sich tragen. Es gibt keine Eiffeltürme, Petersdome, Kolosseen. Keine bedeutenden Kunstsammlungen, von denen wir gehört hätten. Nur wurde ihr  von den vielen Kurven ganz schlecht und sie meinte, ich solle die Kurven doch bitte gerader fahren. Es musste so kommen und wir hatten es kommen sehen. Man sieht es immer kommen, kennt die Vorzeichen, fragt sich, wie das nur möglich ist, kann sich aber nicht entziehen und wird von einer unsichtbaren Kraft in den Abgrund gezogen. Man verschwendet seine Zeit nie, solange man sie ehrlich miteinander verbringt, aber wenn man aufeinander wütend ist, ohne etwas zu sagen und sie dann noch das letzte Stück Melone isst, ohne zu fragen, will man umfallen oder sich ins Meer stürzen. Man spricht miteinander und denkt sich zu verstehen, aber versteht nur sein eigenes Gefühl, das man dem anderen unterstellt, aber lassen wir das. Jeder weiß, wie ein Urlaubsstreit funktioniert, wenn alles um einen gut ist und unschuldig blüht. Einziger Unterschied: eine Portugiesin sucht hinter ihren Beschwerden nicht nach Lösungen. Der Deutsche streitet resolutionsorientiert.Ein gutes Essen und Wein und alles ist wieder gut. Man kann sich wieder entspannen und verpasst nichts, wenn man sich entspannt. Man kann mit gutem Gewissen auf den Felsen am Meer liegen, schwimmen gehen, wie verrückt oder bunte Früchte im Liegen essen. An unserem ersten Tag schauten wir, vom Bett aus, einer Gardine beim Wehen zu. Das war alles. Es war ein halbdurchsichtiger, weißer Schleier aus Fantasie, der sich zwischen uns und dem Ausblick bewegte. Durch die Gardine sah man auf den Balkon und vom Balkon durch den Blumengarten hinaus aufs Meer. Die Gardine wehte wie eine Filmszene hinter der stolze Palmen standen und das Blau des Himmels war und ein Horizont so weit und gerade, wie wir ihn noch nie zuvor gesehen hatten. So stelle ich mir das Paradies vor. Die Ewigkeit. Ein lautlos wehender Vorhang, der von einer Prise bewegt wird, die einen trocknet, nachdem man sich von einem bestimmten Gefühl befreit hat. Man macht sich frisch, cremt sich ein, sieht gebräunt aus und setzt sich auf die himmlische Terrasse des Reids Palace Hotels. Einmal im Leben muss man, an einem Nachmittag, auf dieser Terrasse gesessen haben. Nur nicht zum Afternoon Tea, von halb vier bis halb fünf. Das ist einfach eine Stunde, in der man nicht rauchen darf und Tee trinken muss und sich komisch verhält. Alle anderen Stunden auf dieser Terrasse sind selige Stunden und man wird sie von da an immer mit sich herumtragen, egal wo man sitzt. Man wird sich erinnern, wie man nach einem getanen oder nicht getanen Tag, ohne Stress, ohne Verabredungen auf dieser Terrasse saß und sich treiben ließ, von dem, was ist und sein wird und mit dem Aperitivo auf seine Freundin wartet, der sich naturgemäß etwas länger frisch machen muss. Es ist ein wunderbares Gefühl mit dem Aperitivo auf einen Menschen zu warten, den man liebt. Man sieht die Schiffe kommen, auf sich zu, schreibt was auf, erfährt von Duarte und Capela, den Barmännern des Hotels alles über die besten Restaurants und den frischesten Fisch und den neusten Tratsch. Die Wolken sind immer da, sie kommen vom Berg oder verfangen sich dort, aber sie tun einem nichts […]

NORTONS NACHT

NORTONS NACHT

Norton sah nicht aus wie immer, weil ich ihn nicht immer sah. Er kam die Straße runterghumpelt und sah durstig und gedemütigt aus. Wie ein guter Hund, den man im Warmen verdroschen hatte. Seine Haare waren lang und wedelten. Außerdem hatte er die Sonnenbrille seiner Freundin auf und war festentschlossen heute vor Mitternacht daheim zu sein. Ich konnte das an seinem geduckten Gang sehen. Für mich war das vollkommen okay. Besser so, denn sobald Norton trank, musste er alles fertigtrinken, was es gab und da er nicht alles trinken konnte, was es auf der Welt gab, schlief er irgendwann beim Trinken ein und war gerettet. Er klammerte sich dabei an seine Freundin, wie an ein Stück Holz, das im Meer seines Trinkens schwimmt. Seine Freundin und das Einschlafen retteten ihm immer das Leben. Seiner Freundin gefiel das überhaupt nicht und mir auch nicht und wir sagten ihm das oft. Er sagte dann, dass er nur kurz ein Bier trinken gehe, um über all das nachzudenken und in einer Stunde zurück sei und dann drei Tage später aus Porto wiederkam und so lang auf den Straßen gesoffen hatte bis er auf ihnen schlief. Er war also auf einer Art Bewährung und seine brasilianische Freundin, die er aufrichtig liebte, feierte brasilianische Grillfeste unter seinem Arsch und drohte, ihn zu verlassen. Er flehte sie an, sagte, er würde nur kurz ein Bier trinken gehen, um über all das Nachzudenken und sie sagte nein, wenn er jetzt geht, ist sie weg. Damit hatte sie ihn am Sack. Man konnte Norton nicht lange mit Menschen alleine lassen, die keine Zweifel haben. Er erzählte mir alles davon und wir liefen so vor uns hin und redeten uns durch die letzten Wochen, bis wir wieder bei uns jetzt hier angekommen waren. In der Livraria Simao gaben wir ein paar Bücher für mich ab und Norton meinte, dass das eine ganz ausgezeichnete Bücherei wäre. Sie war sehr klein und süß und hatte wunderschöne flache Schaukästen wie manche Frauen Titten haben, sagte er. Ich dachte, dass das eine gute Metapher wäre. Die Bücherei lag unter einem Bogen neben den Treppen der São Cristóvão und Norton wartete auf den Treppen und trank, während ich die Bücher abgab. Wir liefen weiter durch den Nachmittag und ich dachte daran Hausschuhe zu kaufen und tat es wieder nicht und dachte an diese kleinen Klebeteile, die man unter die Stühle macht, damit sie den Holzfußoden nicht zerkratzen. Dinge, die man braucht, brauchte ich auch. Es war bisher ein sehr sinnloser Nachmittag und wir liefen sehr komische Wege über große offene Plätze und kleine Verlegenheitsgassen entlang und kamen an einer Mercearia vorbei und Norton meinte, dass die Schinken aus dem Meer haben, Muxama de Atum, hieß der und kostete 15 Euro das Gramm, aber das sagte Norton mir nicht, das sagte mir der Kassierer. Ich kaufte ihn trotzdem und der Tunfisch, den ich jetzt in meiner Jackentasche mit mir herumtrug, machte den Nachmittag noch sinnloser. Wir liefen wahllos herum und Norton kaufte zwei Bier im Kiosk neben der Porta do Mar. Wir tranken sie gut versteckt in den Gassen Alfamas, gleich neben einer Associação, in die ich sehr gerne ging, als man noch sehr gerne irgendwo reingehen konnte. Ich erzählte ihm alles darüber und wie es drinnen aussah und wie und was man da nicht alles bestellen konnte. Lange und schöne Abende hatten wir hier verbracht. Plötzlich ging die Tür auf wie eine Erinnerung und ein Mann trat aus ihr heraus, den ich kannte. Es war Mario, der Koch aus Alfama. Ich schrie Mario, como estas amigo, habt ihr offen oder was? Nein Junge haben wir nicht, sagte er, aber wir könnten trotzdem gerne reinkommen, auch, wenn sie zu haben. Wir konnten es nicht glauben […]

MELANCHOLIKER

MELANCHOLIKER

Oh ja, das tut gut, vor allem montags. Das Wochenende war lang uns sinnlos. Hätte lieber arbeiten sollen, als mit denen zu saufen, mit den ich gesoffen habe (aber guten Wein). Freitag habe ich an einem Abend zwei Zigarren geschafft. Eine, nach den Anchovis und eine dann beim Scotch. Mach ich aber nicht wieder. Warum ich mich überhaupt noch mit Wochentagen abgebe. Ein Deutscher war dabei, der sich viel mit Wochentagen abgegeben hat und sich die letzte Anchovis nahm, ohne zu fragen. Es gibt keine Einzahl von Anchovis, sonst hätte ich das schon geschrieben. Der Deutsche war am Anfang ganz nett, interessierte sich sehr für meine Arbeit, brav, so wie ich es gerne hatte. Fragte, um was es mir geht und ich sagte Lissabon, Liebe, viele Worte mit L und E(rwartungen), I(deale), P(erfektion), ein und dasselbe, auch wenn die anders geschrieben werden. Er meinte, Lissabon wäre so toll. Ein bisschen wie Mexiko, nur das die Leute hier im Stehen schlafen. Ohne Sombrero. Die Stadt hätte nicht den gleichen Hochmut wie Paris oder Berlins Angst oder Roms Braggadocio, was immer Braggadocio auch ist. Eile wäre hier noch eine Sünde. Warum eilen die Menschen überhaupt? Sie werden doch eh erst mit der Arbeit fertig, wenn sie tot sind. Da können auch die Anzugträger der Baixa nichts dran ändern. Nichts was wir tun, ist so wichtig wie eine Mahlzeit oder die freundliche Begrüßung eines Ladenbesitzers oder ein Kurzer in der Sonne. Ein Moment, durch den man eilt und ihn verschwendet. Erst wenn wir das erkennen, können wir wichtige Sachen tun. Für mich ist die Stadt aber mehr, als die schlechten Eigenschaften anderer Städte, die sie nicht hat. Hier zu leben und hier zu lieben ist eine Offenbarung, durch die ich wurde, wer ich bin und umso länger ich das bin, desto bescheuerter erscheint mir die Zeit, in der ich nicht hier gelebt und nicht hier geliebt habe. Irgendwann werde ich so weit davon weggelebt haben, dass ich darüber hinauslebe und länger sein, als ich nicht war. Eins in allem. Der gleiche Libertin, aber ein anderer Konstantin. Schriftsteller im Werden, der in Lissabon sein Leben schreibt. Schreiben ist ja immer ein Werden, nie ein Sein, aber das verstand er jetzt nicht. Wer ich denn vorher gewesen bin, wollte er wissen. Ein Agent des Südens in den Schlafzimmern des Nordens? Ich hatte nichts zu beweisen, aber er ließ es mich tun und mochte mich trotzdem. Ich gab ihm ein bisschen, aber er wollte mehr und dann ich gab ihm alles. Einzelheiten, nichts Ganzes, nur Einzelheiten, die was Ganzes ergeben. Aus Zeiten, in denen ich um die Welt ging, um nirgendwo anzukommen. Von Freund zu Freund, von Frau zu Frau. Der Mythos des Ankommens führt einen ja letzten Endes nirgendwo hin. Man ist da und tut es, oder tut es nicht und wenn man es nicht tut, nimmt er den Dingen die Farbe, wie ein Blick durch trübes Glas. Ich erzählte, was ich nicht für ein Hecht gewesen bin und wie es dazu kam, dass ich jetzt eine Frau liebe und nicht mehr alle und nicht mehr in Bars gehe und auf Play drücke, sondern in Bars gehe und keine alte Leier auflegen brauch. Er hätte schon immer Männer bewundert, die auf einer Party sind und was Besseres zu tun haben, schob er freundlich ein und ich nickte, meinte, ich auch. Jetzt sehe ich sie. Wen? Die vielen traurigen Söhne, nie geliebter Väter, die ihre Söhne mit genauso wenig Liebe aufziehen. Sie suchen Liebe, aber sie finden sie nicht, weil sie suchen, anstatt zu finden. Sie stellen die Vollendung über die Sterne, schieben sie hinaus bis ans Ende der Zeit und im Rausch töten sie die Zeit, bevor sie vorbei ist. Die Zeit des zukünftigen Nichts oder des vergangenen Alles. Doch dahin führen alle Schritte auf den Stufen des Lebens, wenn man sie denn geht. Daherkommen wir, dahin gehen wir. Ein jeder Jemand. Du hoffnungsvoller Romantiker, sagte er ironisch, wie ein Typ, der die Frauen an den Titten erkennt […]

AM FENSTER

AM FENSTER

Sitze an ihrem Fenster. Rauche. Lese. Schaue raus. Genieße den Abend und den Fluss. Lass Kerzen brennen. Denke Traurigkeit ist doch nur Erholung, um sich wieder freuen zu können. Himmel und Hölle. Leidenschaftlicher Alltag. Schon gut so. Habe ich gelesen. Den Kopf auf die Hand gestützt. Die Hand auf den Arm, den Arm auf den Tisch und den Tisch dann auf den Boden, den Boden auf das Haus, das Haus auf die Erde, die Erde dann auf was? Gedanken, die einem abends halt mal kommen, die man aber nicht bis zu Ende denken muss. Der Abend ist kühl und nass, aber schön. In einigen Häusern brennt Licht. Ein Blick wie der Anfang einer schönen Geschichte. Sie macht sich frisch oder irgendwas anderes und die Stadt ist still wie ein Dorf. Man hört nur Vögel Flügel schlagen und die Glocken der São Vicente, die wie aus der Zukunft klingen und mir diesen Moment zeigen und wie schön er ist und wie ich mich mal an ihn erinnern werde, ohne die Zwänge der Gegenwart, die man vergisst oder die nichts bedeuten. In einem Fenster sehe ich Menschen, die andere Menschen mit einem Küsschen begrüßen. Sieht einladend und ansteckend aus, wie früher. Ein paar nasse Bäume riechen kalt im Wind. In der Ferne will noch eine Fähre passieren. Sonst nichts. Ich würde auch lieber schreiben, dass es warm ist und die Sonne gerade unterging und alles noch glüht und die andere Flussseite in der Ferne flimmert, aber Regen ballert seit Tagen gegen die Fenster. Unaufhörlich. Nur gegen ihrs nicht. Das Gute an ihrem Fenster ist, dass es offen ist und der Regen da nicht hinkommt, weil er aus Nordwesten kommt und ihr Fenster zum Fluss zeigt. Wir können es offen haben und der Regen tut uns nichts und wir verbringen den Regen im Bett. Nach zehn Rekordtagen Zwist sind wir wieder im siebten Himmel und genießen unsere Liebe. Es ist sehr schön mit jemandem zusammen zu sein, den man sehr attraktiv findet und sich lieben kann, so oft und wie man will; und all diese modernen Verhütungsmittel zur Hand hat und keinen Gedanken daran verschwendet, dass es jemals anders kommen könnte oder sich die Sicht auf das Schöne trübt oder man aus Unsicherheit etwas beweisen muss, weil das alles nur in einem selbst ist und nie im anderen und man für den anderen immer gleich ist, egal, ob man es sich bewiesen hat oder nicht. Mit dem Lieben ist es wie mit dem Schreiben. Manchmal fällt einem der Übergang zwischen Momenten schwer. Männer fürchten nicht zu begehren, Frauen dagegen nicht begehrt zu werden. Man fürchtet vor jedem Anfang, es nicht mehr tun zu können, aber man würde es wieder tun, man hatte es immer wieder getan. Mit ihr werden Träume war, die ich mit anderen nur gehabt habe. Gespräche im Bett, im Stockdunkel eines frühen Winterabends, an dem man nirgendwo mehr hinmuss, nichts zu erledigen hat, nur still und geschafft aufeinanderliegt. Im Ziel ist. Döst. Sich jene Atempause vor dem Tod gönnt, die man selbst erschaffen hat. Ihr Mund war schön und feucht und riecht noch, als ob er schön feucht gewesen wäre. Ihre Haut ist immer noch braun, am Ende eines langen Winters und ihre Brüste quollen unter dem hochgezogenen Wollpullover hervor, wie Fantasien. Sie zog sich aus, wie ein Geschenk, das man wieder einpacken kann. Wir wurden rasend und ein wenig wütend und kamen uns so nahe wie man sich eben kommen kann und rieben unsere Körper aneinander und kamen ineinander und es war wie eine Erlösung von dem Gefühl, dass dich wahnsinnig macht. Danach war es stockdunkel und still im Zimmer. Wie nach einem Mord. Nur der Lichtstrahl einer Straßenlaterne fiel durch den Spalt der Fensterläden herein und legte sich leise zu uns auf den […]

HEILIG

HEILIG

Meine Mutter ist Kuratorin. Wenn sie gestresst ist von Kunstschätzen und den vielen Farben, geht sie ins Kloster. Sie sagt dann immer wie toll das dort ist, weil dort alles schwarz und weiß ist, einfach, ruhig. Die Nonnen wären auch so offen, weltgewandt und gar nicht so, wie man eben denkt. Wie denkt man denn? Ich denke, wie in Der Name der Rose. Sie meint dann, ich solle das unbedingt auch mal probieren. Ein bisschen christliche Überlegenheit schwingt da schon mit. Der rechte Weg, ins Licht, Halleluja. Vielleicht bilde ich mir das aber nur ein, denn ich bin nicht schlecht im Einbilden. Die meiste Zeit meines Tages verbringe ich in einer Welt, die mit der Welt, in der ich mir das alles einbilde, nicht viel zu tun hat. Mein Job ist es, mich mit mir und meinem Leben auseinanderzusetzen und das aufzuschreiben. Hauptberuflich Denken. Dafür brauche ich kein Kloster. Dafür brauche ich eine Bar, um mich zu zerstreuen. Na gerade deswegen, meint meine Mutter dann. Im Kloster hätte niemand Erwartungen an Menschen wie dich, nicht einmal du selbst, und ich könnte da eine ganz wunderbare Geschichte schreiben. Na, wenn das keine Erwartung ist. Aber ich wollte offen sein, so wie ich allem im Leben offen entgegentreten möchte, um eine eigene Meinung von der Welt zu haben und nicht die der anderen. Außerdem hatte ich harte Tage hinter mir. Ich konnte meine Leber fühlen. Der Geburtstage meiner Freundin und noch ein anderer Geburtstag und die Tage dazwischen, an denen wir genauso feierten, nur ohne das einer Geburtstag hatte, den wir kannten. Wir aßen und tranken und aßen und tranken noch mehr und dazwischen brannten die Flammen der Liebe. Das ist das harte am investigativen Journalismus. Ich rief also mal an, im Kloster, Telefonen hatten die ja da. Der Abt ging auch gleich ran und war so fröhlich und sagte, na klar, wie gerne er mich nicht empfangen würde und wann ich komme und was ich bräuchte und ob er mich vom Bahnhof abholen solle, Halleluja. Könnten Telefonleitungen Sonnenstrahlen transportieren, ich wäre am anderen Ende verbrannt. Kurz darauf rief er nochmal an und sagte, er hätte eine Geschichte von mir gesehen und freue sich, mir sagen zu können, dass sie auch Wein machen und Schnaps. Ich dachte auwei. Der Abt war der fröhlichste Mensch, mit dem ich je telefonierte habe und ich fragte mich, wie man ohne Vögeln nur so fröhlich sein kann und dachte, vielleicht ist das der Grund. Meine Freundin fürchtete sich davor, dass ich das dachte und ins Kloster wollte und meine Freunde dachten, ich gehe in irgendsoein Retreat, wo man viel Geld bezahlt, um eine Woche die Schnauze zu halten. Ich beruhigte sie alle, meinte ich liebe das menschliche Fleisch, gerade seine sündhaftesten Stellen und hätte mich lange selbst gefunden und finde mich dort bestimmt nur unerträglich. Ich komme bald wieder zurück. Am Tag meiner Abreise aß ich ein letztes weltliches Mittagessen mit meiner Freundin. Weltlich liest sich jetzt einfach so, ich weiß, und ein Mittagessen im Freien ist auch nichts Besonderes, aber wenn man einmal in einem Kloster gewesen ist, weiß man, was das wirklich bedeutet. Wer es nicht weiß, kann in diesem Text fertiglesen und weiß es dann auch. Jedenfalls lag das Lokal auf einem schönen Lissabonner Platz und der Platz lag in der Sonne und ich dachte, dass es die ersten Tage nach wochenlangen Ausgangssperren wären und ich ins Kloster gehen muss. Blöder Zufall, aber wie gesagt, ich lebe in meiner eigenen Welt und in der hatte es immer ein verstecktes, illegales Lokal gegeben, in dem man auch während der Ausgangsperre gut Essen konnte. Als wir zum Bahnhof gingen und ich meine Freundin zum Abschied küsste und in den Zug stieg und der Zug losfuhr, machte sich Beklommenheit in mir breit. Einsamkeit, Kälte, kindliche Angst. Umso weiter mich der Zug von Lissabon und ihr wegfuhr, umso schlimmer und grauer wurde es und ich dachte, dass es in Lissabon nie so grau gewesen wäre, weil die Sonne dort immer über den Wolken ist. Der Zug brachte mich […]

SCHEISSE, VERDAMMTE

SCHEISSE, VERDAMMTE

Ich stand vor dieser Auslage und sah diesen leckeren Rührkuchen und hatte seit Tagen Durchfall. Der Rührkuchen war oben mit Puderzucker bedeckt und hatte einen aufgeblasenen, zweifarbigen Körper. Er sah nass aus und wundervoll und unerreichbar und ich schaute ihn eine Weile lang an, wie man einen Traum anschaut, von dem man durch Glas und Magenprobleme getrennt ist. Der Laden lag in einer Straße, die ich oft gegangen war, sogar öfter, aber dieses eine Mal besonders. An diesem Tag nahm der Laden, in dieser Straße, mit der Auslage, in der der Rührkuchen lag, einen ganz besonderen Platz in meiner Erinnerung ein. Das war nachdem ich beim Gesundheitstelefon angerufen hatte, das man für die Seuche einrichtete. Jeder konnte dort anrufen, auch wenn er was anderes als die Seuche hatte. Meine Freundin sagte, wenn ich nicht dort anrufe, ruft sie dort an, zwanzig Prozent Wahrscheinlichkeit, dass das die Seuche ist. Ich wollte dort nicht anrufen und wir stritten und sahen uns für eine Weile nicht, auch aus anderen Gründen, aber wir nahmen meinen Durchfall zum Anlass. Ich dachte darüber nach. Wenn ich deswegen in ein Krankenhaus müsste, um zu sterben, würde ich ins São José. Es ist alt und hat einen wundervollen Blick auf die Stadt. Einen Blick, der besser ist, als alle Blicke, die ich bis jetzt gesehen habe. Vor allem oben von der Pathologie aus, aber das nützt einem dort oben dann auch nichts mehr. Man sieht die Stadt und guckt auf das vorbeiziehende Leben, von dem man doch nun kein Teil mehr ist und denkt wie sorglos und glücklich, die Menschen doch durch die Stadt gehen sollten und wie angewidert und angestrengt sie es tun. Das São José ist wie ein Museum, wie eine Altbauwohnung mit Dielenboden und Azulejos und Kirche, aus vielen fernen Steinen gemacht. Vögel zwitschern vor den Fenstern in den Bäumen und nackte Griechinnen stehen versteinert auf den Torbögen und versprühen Himmel, Hedonismus und Hoffnung. Ganz früher war es ein Schlachthaus für Rinder und später ein Kloster und dann eine Isolierstation für Leprakranke und heute ist es ein Thema, mit dem Nachrichtenagenturen Einschaltquoten für ihre Werbekunden generieren. Ich könnte noch weiter googeln, ziehe meine Informationen aber lieber aus der Wirklichkeit. Ich war selber noch nie da, bis ich neulich über den Innenhof gegangen bin. Das hatte aber nichts mit dem Durchfall oder der Seuche zu tun, auch wenn mir die Zusammenhänge und deren Schlussfolgerung beim Schreiben klargeworden sind. Unbestreitbar, ist aber Zufall gewesen. Ehrlich. Ich wusste nicht, was ich da tat. Bin einfach rein, wie angezogen und merkte erst drinnen, dass ich während einer Seuche und mit Durchfall drinnen war. Es sah leer aus und war gar nicht so voll wie in den Nachrichten, aber die Menschen sahen geschafft aus, so als hätten sie ein Jahr lang durchgearbeitet. Ich traf einen alten Mann, der als Sicherheitsbeamter arbeitet und mich fragte, was ich hier zu suchen hätte. Das wusste ich auch nicht und weil es keine hinterhältigen Gründe gibt, wegen denen man freiwillig ein Krankenhaus besuchen würde, sprach der Mann gleich vom Fußball und von anderem. Er roch nach Knoblauch, Zigaretten und Fishermans Friend und seine Geschichten waren wie Regentage am Meer, in denen ab und an die Sonne rauskommt. Er hätte heute, neben den Fußballergebnissen, einen guten Zeitungsartikel gelesen, den ein anderer alter Mann geschrieben hätte, meinte er. Er erzählte mir, dass es um einen alten Mann ging, der, wie er, jemanden hätte, der ihm die Wäsche wäscht und die Pillen bringt. Jedenfalls war das vor der Seuche so, jetzt käme Mafalda nicht mehr. Sie kommt sonst zweimal die Woche für ein paar Stunden. Er freue sich immer sehr, wenn sie kommt und ist froh und erleichtert, wenn sie wieder geht. Nachdem seine Frau starb, wäre er gerne alleine mit sich und den Erinnerungen an seine Frau. Er sitzt in einem Stuhl und schaute aus dem Fenster und beobachtete die Jahreszeiten. Diese Erinnerungen bedeuteten ihm alles und er bewahrte sie an einem sicheren Ort auf, an dem sie selbst die Zeit nicht hinkommt. Er wäre […]

ALTMODISCH

ALTMODISCH

Es war nur so, weil sich die ganze verdammte Ausgangssperre wie ein wochenlanger Sonntagabend anfühlte, an dem man nichts mehr kaufen konnte. Man konnte nur sein und genießen, wenn man alles Nötige dafür gekauft hatte. Mehr konnte man nicht tun. Im ganzen Leben nicht. Man konnte nur alle seine Sinne stimulieren, so gut wies ging. Edle Weine trinken, gutes Essen essen, schöne Frauen ficken, Zigarren rauchen, Rodrigo Leão hören, Gedichte von Robert Gernhardt lesen. Von einem Fenster im Hinterhof, den Lauf der Dinge beobachten, die Katzen, das mit den Jahreszeiten, alles, was sonst nicht der Rede wert war und am Ende doch alles ist. Der letzte Abend vor der Ausgangssperre wurde ein Abendmahl. Wir trafen uns und gingen los und kauften schöne Sachen, die man Trinken und Essen konnte. Für jede einzelne Sache gingen wir in einen ganz bestimmten Laden, auch wenn die Sache noch so klein war. Die Läden wurden von Menschen geführt, die ihre Rechnungen noch mit der Hand schrieben und sich dann verrechneten und nochmal von vorne anfingen und dann etwas vergaßen und man sie höflich darauf hinwies, weil sie einen oft einfach gehen ließen, wenn man nicht genügend Bargeld dabeihatte. Hinter ihnen standen geschälte Tomaten in Konservendosen, wie in einer anderen Zeit. Es war die Kulisse einer Vergangenheit, die seltsame Zeit einer Sehnsucht, die tief in einem drinnen wächst und der Zeit folgen will. Manche Tomatendosen standen da, wie Statuen im Herbst in Paris. Das klingt vielleicht nicht so spannend, aber in einer Zeit, in der mit der Liebe nicht viel los war und wir in unseren Wohnungen leben mussten und die Restaurants schlossen, war es das einzige, was wir tun konnte. Man konnte ansonsten nur noch loslaufen und auf der Straße mit irgendwem ein Gespräch anzetteln. Wir kannten die meisten Ladenbesitzer und sie erklärten uns alles über diese und jene Sache und sie hatten immer etwas ganz Besonderes für uns da, dass immer besonderer wurde, je öfter wir kamen. Weil sonst niemand kam, erkannten uns die Ladenbesitzer wieder und wir tauchten aus den Touristenfluten auf wie ein U-Boot. Sogar bei Manuel Tavares erkannten man uns. Manuel Tavares oder ein Nachkomme dieser Helden erklärte uns, dass man alte Weine nicht unbedingt horizontal lagern muss und dass Zigarren am Tejo keinen Schrank brauchen, weil die Luft vom Fluss gut genug ist. Außerdem bekämen die alten Weine aus Colares, durch die langen Jahre der Entsagung, ihren Wert und wir sollten noch eine Kiste mehr kaufen und sie lagern und ich meinte, dass die bei uns nicht überleben würden, weil es immer eine Nacht gibt, in der es nichts mehr gibt, vor allem jetzt. Wir kannten zwar immer einen Laden, der uns nach der Sperrstunde noch eine Flasche als Obstkiste getarnt verkaufte, aber es war nicht das gleiche und irgendwann gingen uns die immer neuen Regeln ins Mark und die Seuche infizierte unser Unterbewusstsein. Es war als auch die Parks schlossen und die Bänke und man nirgendwo mehr sitzen konnte. Trauer und Enttäuschung der Menschen legt sich über die Straßen. Jeder Tag sah aus, wie der davor und es war egal, ob es gute oder schlechte Tage waren, denn alle Tage waren gleich. Die Tage waren nur noch eins in uns. Ein fernes Dach im Nebel eines planlosen Tages, noch ein Baum, mehr nicht. Die Statuen stehen unangeschaut da. Die Laternen auf der Burg gehen für niemanden an, wie Sterne. Nur gehören sie nicht zum Himmel, sie gehören der Stadt, wie die Stadt zum Himmel gehört. Die angestrahlte São Vicente de Fora hebt sich marmorgold vom Regenhimmel ab und die Stadt präsentiert sich ihre gestiegenen Treppen hinab. Keine Esskastanien mehr, diesen Winter. Man hatte uns um eine Jahreszeit des Lebens gebracht und wir betrachteten Lissabon, von hier aus der Ferne einer Erinnerung. Eine Hausfassade hoch. Einen Hauseingang rein. Ein geöffnetes Balkonfenster, wie es auf einen kleinen Platz guckt. Das Leben verlor seine Selbstverständlichkeit, was irgendwie auch schön war. Es war vielleicht das einzig Gute daran und, dass man ein Problem hatte und sich keins machen musste. Aber wir wollten das Leben auf den Straßen wieder und wir wollten unser Leben wieder und nicht verlernen, wie man vor einer anständigen Bar steht und einen Drink hält […]