HEILIG
Meine Mutter ist Kuratorin. Wenn sie gestresst ist von Kunstschätzen und den vielen Farben, geht sie ins Kloster. Sie sagt dann immer wie toll das dort ist, weil dort alles schwarz und weiß ist, einfach, ruhig. Die Nonnen wären auch so offen, weltgewandt und gar nicht so, wie man eben denkt. Wie denkt man denn? Ich denke, wie in Der Name der Rose. Sie meint dann, ich solle das unbedingt auch mal probieren. Ein bisschen christliche Überlegenheit schwingt da schon mit. Der rechte Weg, ins Licht, Halleluja. Vielleicht bilde ich mir das aber nur ein, denn ich bin nicht schlecht im Einbilden. Die meiste Zeit meines Tages verbringe ich in einer Welt, die mit der Welt, in der ich mir das alles einbilde, nicht viel zu tun hat. Mein Job ist es, mich mit mir und meinem Leben auseinanderzusetzen und das aufzuschreiben. Hauptberuflich Denken. Dafür brauche ich kein Kloster. Dafür brauche ich eine Bar, um mich zu zerstreuen. Na gerade deswegen, meint meine Mutter dann. Im Kloster hätte niemand Erwartungen an Menschen wie dich, nicht einmal du selbst, und ich könnte da eine ganz wunderbare Geschichte schreiben. Na, wenn das keine Erwartung ist. Aber ich wollte offen sein, so wie ich allem im Leben offen entgegentreten möchte, um eine eigene Meinung von der Welt zu haben und nicht die der anderen. Außerdem hatte ich harte Tage hinter mir. Ich konnte meine Leber fühlen. Der Geburtstage meiner Freundin und noch ein anderer Geburtstag und die Tage dazwischen, an denen wir genauso feierten, nur ohne das einer Geburtstag hatte, den wir kannten. Wir aßen und tranken und aßen und tranken noch mehr und dazwischen brannten die Flammen der Liebe. Das ist das harte am investigativen Journalismus. Ich rief also mal an, im Kloster, Telefonen hatten die ja da. Der Abt ging auch gleich ran und war so fröhlich und sagte, na klar, wie gerne er mich nicht empfangen würde und wann ich komme und was ich bräuchte und ob er mich vom Bahnhof abholen solle, Halleluja. Könnten Telefonleitungen Sonnenstrahlen transportieren, ich wäre am anderen Ende verbrannt. Kurz darauf rief er nochmal an und sagte, er hätte eine Geschichte von mir gesehen und freue sich, mir sagen zu können, dass sie auch Wein machen und Schnaps. Ich dachte auwei. Der Abt war der fröhlichste Mensch, mit dem ich je telefonierte habe und ich fragte mich, wie man ohne Vögeln nur so fröhlich sein kann und dachte, vielleicht ist das der Grund. Meine Freundin fürchtete sich davor, dass ich das dachte und ins Kloster wollte und meine Freunde dachten, ich gehe in irgendsoein Retreat, wo man viel Geld bezahlt, um eine Woche die Schnauze zu halten. Ich beruhigte sie alle, meinte ich liebe das menschliche Fleisch, gerade seine sündhaftesten Stellen und hätte mich lange selbst gefunden und finde mich dort bestimmt nur unerträglich. Ich komme bald wieder zurück. Am Tag meiner Abreise aß ich ein letztes weltliches Mittagessen mit meiner Freundin. Weltlich liest sich jetzt einfach so, ich weiß, und ein Mittagessen im Freien ist auch nichts Besonderes, aber wenn man einmal in einem Kloster gewesen ist, weiß man, was das wirklich bedeutet. Wer es nicht weiß, kann in diesem Text fertiglesen und weiß es dann auch. Jedenfalls lag das Lokal auf einem schönen Lissabonner Platz und der Platz lag in der Sonne und ich dachte, dass es die ersten Tage nach wochenlangen Ausgangssperren wären und ich ins Kloster gehen muss. Blöder Zufall, aber wie gesagt, ich lebe in meiner eigenen Welt und in der hatte es immer ein verstecktes, illegales Lokal gegeben, in dem man auch während der Ausgangsperre gut Essen konnte. Als wir zum Bahnhof gingen und ich meine Freundin zum Abschied küsste und in den Zug stieg und der Zug losfuhr, machte sich Beklommenheit in mir breit. Einsamkeit, Kälte, kindliche Angst. Umso weiter mich der Zug von Lissabon und ihr wegfuhr, umso schlimmer und grauer wurde es und ich dachte, dass es in Lissabon nie so grau gewesen wäre, weil die Sonne dort immer über den Wolken ist. Der Zug brachte mich […]