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BYND

Konstantin Arnold

SCHEISSE, VERDAMMTE

SCHEISSE, VERDAMMTE

Ich stand vor dieser Auslage und sah diesen leckeren Rührkuchen und hatte seit Tagen Durchfall. Der Rührkuchen war oben mit Puderzucker bedeckt und hatte einen aufgeblasenen, zweifarbigen Körper. Er sah nass aus und wundervoll und unerreichbar und ich schaute ihn eine Weile lang an, wie man einen Traum anschaut, von dem man durch Glas und Magenprobleme getrennt ist. Der Laden lag in einer Straße, die ich oft gegangen war, sogar öfter, aber dieses eine Mal besonders. An diesem Tag nahm der Laden, in dieser Straße, mit der Auslage, in der der Rührkuchen lag, einen ganz besonderen Platz in meiner Erinnerung ein. Das war nachdem ich beim Gesundheitstelefon angerufen hatte, das man für die Seuche einrichtete. Jeder konnte dort anrufen, auch wenn er was anderes als die Seuche hatte. Meine Freundin sagte, wenn ich nicht dort anrufe, ruft sie dort an, zwanzig Prozent Wahrscheinlichkeit, dass das die Seuche ist. Ich wollte dort nicht anrufen und wir stritten und sahen uns für eine Weile nicht, auch aus anderen Gründen, aber wir nahmen meinen Durchfall zum Anlass. Ich dachte darüber nach. Wenn ich deswegen in ein Krankenhaus müsste, um zu sterben, würde ich ins São José. Es ist alt und hat einen wundervollen Blick auf die Stadt. Einen Blick, der besser ist, als alle Blicke, die ich bis jetzt gesehen habe. Vor allem oben von der Pathologie aus, aber das nützt einem dort oben dann auch nichts mehr. Man sieht die Stadt und guckt auf das vorbeiziehende Leben, von dem man doch nun kein Teil mehr ist und denkt wie sorglos und glücklich, die Menschen doch durch die Stadt gehen sollten und wie angewidert und angestrengt sie es tun. Das São José ist wie ein Museum, wie eine Altbauwohnung mit Dielenboden und Azulejos und Kirche, aus vielen fernen Steinen gemacht. Vögel zwitschern vor den Fenstern in den Bäumen und nackte Griechinnen stehen versteinert auf den Torbögen und versprühen Himmel, Hedonismus und Hoffnung. Ganz früher war es ein Schlachthaus für Rinder und später ein Kloster und dann eine Isolierstation für Leprakranke und heute ist es ein Thema, mit dem Nachrichtenagenturen Einschaltquoten für ihre Werbekunden generieren. Ich könnte noch weiter googeln, ziehe meine Informationen aber lieber aus der Wirklichkeit. Ich war selber noch nie da, bis ich neulich über den Innenhof gegangen bin. Das hatte aber nichts mit dem Durchfall oder der Seuche zu tun, auch wenn mir die Zusammenhänge und deren Schlussfolgerung beim Schreiben klargeworden sind. Unbestreitbar, ist aber Zufall gewesen. Ehrlich. Ich wusste nicht, was ich da tat. Bin einfach rein, wie angezogen und merkte erst drinnen, dass ich während einer Seuche und mit Durchfall drinnen war. Es sah leer aus und war gar nicht so voll wie in den Nachrichten, aber die Menschen sahen geschafft aus, so als hätten sie ein Jahr lang durchgearbeitet. Ich traf einen alten Mann, der als Sicherheitsbeamter arbeitet und mich fragte, was ich hier zu suchen hätte. Das wusste ich auch nicht und weil es keine hinterhältigen Gründe gibt, wegen denen man freiwillig ein Krankenhaus besuchen würde, sprach der Mann gleich vom Fußball und von anderem. Er roch nach Knoblauch, Zigaretten und Fishermans Friend und seine Geschichten waren wie Regentage am Meer, in denen ab und an die Sonne rauskommt. Er hätte heute, neben den Fußballergebnissen, einen guten Zeitungsartikel gelesen, den ein anderer alter Mann geschrieben hätte, meinte er. Er erzählte mir, dass es um einen alten Mann ging, der, wie er, jemanden hätte, der ihm die Wäsche wäscht und die Pillen bringt. Jedenfalls war das vor der Seuche so, jetzt käme Mafalda nicht mehr. Sie kommt sonst zweimal die Woche für ein paar Stunden. Er freue sich immer sehr, wenn sie kommt und ist froh und erleichtert, wenn sie wieder geht. Nachdem seine Frau starb, wäre er gerne alleine mit sich und den Erinnerungen an seine Frau. Er sitzt in einem Stuhl und schaute aus dem Fenster und beobachtete die Jahreszeiten. Diese Erinnerungen bedeuteten ihm alles und er bewahrte sie an einem sicheren Ort auf, an dem sie selbst die Zeit nicht hinkommt. Er wäre […]