Menü

BYND

Konstantin Arnold

PIRATA

PIRATA

Pirata war kein Ort, an den du abends mit jemandem gehst, wenn dir jemand und der Abend etwas bedeuten. Man kam hier alleine her, mittags und an Wochentagen, kurz und ohne Wein, hier aßen Leute, die gearbeitet hatten und auch vorhatten, das nach dem Mittag wieder zu tun. Einfache Leute, die das Leben gut kannten, Taxifahrer, Passmacher, Steuerberater aus dem Viertel, Rentner, die nebenbei weiter Taxifuhren, Notare in durchdachten Anzügen, Beamte, die billige weiße Shirts unter billigen weißen Hemden trugen, Leute von der Post, Gescheiterte, Gewesene und Frauen von Gewesenen, die vom Sein und Sitzen immer dicker wurden. Abends, wenn man Wein wollte und gute Gesellschaft brauchte, kam man hier nicht her, außer, wenn man unbedingt etwas brauchte und auch sonst alles zu hatte und man eh gerade in der Gegend war. Um an den Abenden zu funktionieren war Pirata zu wenig Restaurant und zu viel Kantine. Der Laden bestand aus einem einzigen schmalen Gang, der von einer Theke halbiert wurde, links waren eilig die Hocker, rechts nackte Holztische mit Stühlen hingestellt. An beiden Enden des Ladens hatte man Fernseher angebracht. Die Tageskarte wurde vom Besitzer noch selbst geschrieben und das Essen auf der Karte war immer einfach und ehrlich und gut und billig. Hinter der Theke hingen Karikaturen von Gästen, die das zu schätzen wussten und ein Schild auf dem immer das gleiche steht: Nur Heute, ein Bier und ein Teller Krabben, 2.99. Der Besitzer blieb meistens bis zum Mittag, machte Besorgungen, regelte Papierkram, schrieb die Karte für den nächsten Tag und aß dann sein Lunch, genau wie Senhor Antonio, der aß aber nichts, sondern ging nur. Nach dem Mittag kamen dann der Glatzkopf und das Arschloch und lösten den Besitzer und Antonio von ihrer Schicht ab. Der Glatzkopf war sehr nett und das Arschloch ein Arschloch, weil ihm Pirata doch egal war und jeder der da hinkam. Man sagt, er hätte sich das letzte Mal mit zehn ein Lächeln abgerungen, als ihm klar wurde, dass wir alle sterben. An die Touristen schenkte er schlechten Wein aus, der seine Farbe und Güte lange verloren hatte und durch Zucker und Farbstoff am Leben blieb. Er mochte mich nicht und ich mochte ihn nicht und nachdem ich abends mal mit Leuten da war und er um halb elf schon anfing, die Stühle reinzustellen und uns den Wein vom Tisch nahm, beschwerte ich mich beim Besitzer, zog in ein anderes Viertel und kam nie mehr her. Pirata war tot. Aber das ist alles aus einer Zeit, in der wir zum Mittag oft zu Pirata gingen. Längst vergangen. Eines Tages war ich in der Gegend, um Besorgungen für unsere neue Wohnung zu machen, weil ich noch nicht genau wusste, wo man die bei uns macht. Es war schön, zu sehen, dass viele von den Pennern, die man so kannte, noch am Leben waren und auch sonst alles da war, wo es war. Ich ging in kleine Läden, mit Leuten vom Land, die sehr nett waren, aber keine Besorgungen dahatten. Es war nur nicht so, wie wenn man in der Baixa welche machte und für jede Sache in einen bestimmten Laden ging und sich gut unterhielt und dann für ein Bifana bei Afonso die Rua da Madalena raufgehen konnte. Man konnte sich auch keine Zeitung kaufen oder bei Jorge vorbei und in die Elektrische steigen und Kerzen mit Ausblick kaufen. Übrigens hatte ich Jorge schon eine Weile nicht gesehen, das letzte Mal vor ein paar Wochen. Er merkt seine Narbe jetzt aber nur noch beim Trinken, und wenn er ans alte Lissabon denkt und die neuen Geschäfte, die es aushöhlen, wie er sagt. Drogaria Central, Manteigaria Silva, Casa Macário, das wären noch Läden sagt er und dass es in der Baixa schon noch anständige Geschäfte gibt mit Menschen, die stolz auf das sind, was sie tun und es nicht nur tun, um dann andere Dinge tun zu können. Aber das half nichts, ich musste Besorgungen machen und ich konnte dafür nicht in die Baixa und wusste nicht, wo man die bei uns macht und fuhr in mein altes Viertel […]

TUN & LASSEN

TUN UND LASSEN

Regen ist da. Das sind in Portugal Nachrichten. Vor allem weils dann Pfifferlinge gibt. Der November nimmt sein Recht in Anspruch nass zu sein. Sowas. Stirbt ja sonst keiner und wenn einer stirbt, konzentrieren sich alle schönen Momente in einem schwarzen Loch. Ich glaube fest daran, dass uns ein leidenschaftliches Leben vor dem Tod bewahrt. Das muss auf den Kippenpackungen stehen. Rauchen ist tödlich, na klar, aber Rauchen, ohne Leidenschaft, Leben ohne Liebe, tötet noch mehr. Wer keine Ziele hat, keine Berufung fühlt, morgens nicht gerne aufwacht und denkt, jawoll, jetzt randalier ich mir einen und dann geht’s aber sowas von los, braucht ein Glas an der Bar seines Therapeuten oder sollte sich vom letzten Licht der Welt treffen lassen. Treffpunkt halb 6, Dach der Igreja São Vicente. Man läuft auf dem Dach wie auf dem Mond. Sieht runter zu Dingen, zu denen man sonst raufgeguckt hat. Sieht sie vom Standpunkt der Ewigkeit aus betrachtet, hinter Höfe und Mauern in das Leben der Menschen. Es gibt keinen besseren Blick. Ein Ort, um die Seele im Sattel zu halten. Eine andere Perspektive. Neue Dimensionen. Ein schöner Moment. Das Leben ist den Tod dann wert. Auch wenn das Wetter schlecht ist, aber es war auch so, als ob es nie sonnig gewesen wäre und nie wieder wird. Der Einfluss des Wetters auf die Stunden des Lebens. Klarheit des Tages, Ernst der Nacht. Ist ja nicht so, dass die Alten viel vom Wetter reden, weil sie vor Komplexem kapitulieren, sondern weil es gelöst ist. Früh am Morgen ist das Licht noch wahr, noch hoffen, mittags schon ein Blenden, eine Lüge, und abends eine oder keine, aber Fazit, ein Resultat. Die Nacht ist nur für jene, die das nicht glauben wollen, es nicht einfach hinnehmen, bis sie im neuen Licht vergehen. Die großen Überforderungen sind dann überwunden. Tag, Nacht, Wahr und Falsch, Frage, Antwort, Welt und Gott, Glück und Leid, du und ich, Auf und Untergang. Sie gehen am Himmel ineinander über. Siehst du? Das Schöne des Sonnenuntergangs findet in die andere Richtung statt. Das Licht flieht aus den Straßen über die Türme und den Fluss, über die Ebene zu den Hügeln in die Nacht. Eine einfache mattdunkle Hügelfläche im Dunst, mehr nicht, angemalt am Horizont. Ein Augenblick. Sieht aus, als ob da Feuer hinter den Hügeln in Afrika brennt. Die Flammen spiegeln sich in den Fenstern. Doch das ist passe. Muss einen anderen Einstieg wählen, keine Erinnerung daran. Der Regen ist da. Das sind in Portugal Nachrichten. Der November nimmt sein Recht in Anspruch nass zu sein. Aber es war auch so, als ob es nie sonnig gewesen wäre und nie wieder wird. Es war nicht wie morgens, wenn die Straße wegen der Reinigungsfahrzeuge nass war oder den Sprinklern im Park und man dachte, dass der Regen schon dagewesen war, bevor ihn die Sonne trocknet und der Fluss durch die Bäume und Zäune schimmert, wie die Riviera oder Amalfiküste oder der Lago di Como. Nein, die Parks schön traurig und trist. Leer, außer wenn man selbst durch einen geht, auf nassen Wegen, und sieht, dass der Quiosque doch noch offen hat. Kerzen brennen auf den Tischen. Komm einen trinken wir noch. Stoßen auf Statuen an, die hier von Terrassen gucken, weil der Fluss fließt wie das Meer. Das Pantheon mondfarben, breitbeinig, leuchtend und stolz, oh ich hasse Adjektive, aber wie soll man sonst beschreiben, was da in einem ist. Gott verdammt. Es geht nicht um Dinge oder Tage, sondern was sie in einem auslösen. An den Kleinigkeiten haftet der Eindruck des großen Ganzen ganz groß. Van der Neer hat das gemalt und ich will schreiben, wie der das gemalt hat. Ganz und gar und immer wieder dasselbe Motiv, bis man alles verbrennen möchte und wieder von vorn. Heute malt keiner mehr ein ganzes Gesicht, man deutet es an. Schreibt, bis man […]

HAUS DER HUREN

HAUS DER HUREN

In einer Zeit, die eine schwere Zeit war und vor einer sehr guten Zeit kam, verbrachten wir viele Abendstunden in einem alten Haus unten am Fluss. Das Haus stand in einer steilen Straße, gar nicht weit von uns, und viele Leute gingen daran vorbei ohne zu wissen, was es war oder sich überhaupt einen Gedanken zu machen, was es sein könnte oder was darin ist. Von außen war es heruntergekommen und manche sagten, es sei hässlich, aber das waren die gleichen, die dann sagten, auf die inneren Werte käme es an. Es sah vielleicht nicht aus wie ein Café auf Treppen bei Nacht, aber es wurde sehr schön älter und das meiste, was heute gebaut wurde, sah nur schön aus, solange es neu war, nicht, wenn es älter wurde. Es konnte nicht alt werden, weil es nicht schön war und das Haus war schön und wir mochten es mit jedem Tag mehr und manchmal, wenn wir in guten Zeiten da gewesen waren und es mochten, konnten wir uns nicht vorstellen, dass die Zeiten je wieder schlecht werden konnten, wenn sie einmal so gut waren und umgekehrt. Es schien immer unmöglich, dass es sich jemals wieder änderte. Für viele war das Haus also ein ganz normales altes Haus mit vielen geschlossenen Fenstern und zwei Laternen dran, die an den Wänden hingen und auf die späten Straßen schienen. Wenn Leute wussten, was es war und man sagte, dass man da gewesen ist, kamen die Leute näher und senkten ihre Stimmen und erzählten vorsichtig, wie es früher dort war und ob man wisse, wo man da gewesen wäre. Sie erzählten es immer mit einem Zwinkern und so, als ob beim Reden etwas davon kaputt gehen könnte. Die Leute erzählten sich viele Geschichten, aber nie eine, die so war wie es war. Denn das Haus war gar kein Puff, sondern eine Bar, in die man ging, wenn es sehr spät war und man in ein Restaurant gegangen ist und in eine andere Bar und dann in einen Club und immer noch niemanden abbekommen hatte. Man konnte auch sein eigenes Mädchen mitbringen und daran arbeiten, dass die Zeit wieder besser wurde oder eben schlechter. Alle Männer enden früher oder später an Theken. In guten und in schlechten Zeiten. Mit oder ohne Frauen, aber Männer ohne Frauen waren meistens unerträglich. Sie interessierte dann außer Frauen nur eins, nämlich nichts. Nicht mal schnelle Autos und wenn fuhren sie die ja nur wegen den Frauen. Sie ließen die Abende so lange Nächte werden, bis daraus wieder Tage wurden, mehr nicht. Trotzdem war es sehr schön wieder Menschen an Tischen sitzen zu sehen oder an Theken stehen, die sich unterhalten und die etwas hatten, über das sie sich unterhalten konnten. Hinter der Theke stand Paulo, aber alle nannten ihn nur wie den Schriftsteller Coelho, wir riefen Paulo Coelho, bring uns doch bitte noch zwei. Er war ein wunderbar freundlicher alter Mann, der sich von Haferflocken ernährte und ein sorgfältiges Leben führte, das sah man an seiner Haut und wie er redete und sich bewegte und nie hätte man gedacht, das er sowas machen konnte oder auch nur irgendwas damit zu hatte. Aber die vielen Nächte und die wenigen Tage machten […]

ALLNACHT

ALLNACHT

Einen Tag, bevor mein Vater starb, ging ich essen. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Es ist eine Feststellung, wie dass das Wetter schlecht ist. Man denkt, man müsste was fühlen oder was sagen, sagt und fühlt aber nichts. Wir kannten uns nicht. Vielleicht zwei, dreimal gesehen, also keine emotionale Beziehung, nur eine höhere, die mir am Abend vorher sagte, dass er morgen dann tot ist. Ich stand im Bairro Alto und schrieb mir das auf. Ansonsten gibt es keine schönen Momente, die jetzt in mir wehtun. Auch keine schlechten. Ich spüre ein paar Worte mit F, viele mit V, und eins mit D. Frieden, Verständnis, Versöhnung, Vergebung, keinen Vorwurf und Dankbarkeit. Von Menschen, die ihn kannten, hör ich, was er nicht für ein Kerl gewesen ist, bevor er eben wurde, wie er war. Tarzan nannten sie ihn. Er konnte Sachen bauen und Sachen kaputtschlagen und sah aus wie ein deutscher Adriano Celentano. Die Weiber werden heute noch feucht und Männer ballen die Fäuste. Das macht mich stolz. Er schien unsterblich. Weine ich deswegen? Sie sagten, er konnte einen Amboss alleine heben und zog die Menschen an wie Fliegen. Es dauert keine Minute und Fremde schütten ihm ihr Herz aus, bis ins letzte Kästchen. Seine raue und bereite Art gab seiner Sensibilität eine Kraft. Dieselbe Kraft sehen sie in mir, sagen sie, um mich zu trösten. Er wäre genauso unterwegs gewesen, jeden Tag, am Anfang mit dem Motorrad, dann dem Fahrrad, am Ende auf Krücken und als er nicht mehr auf Krücken unterwegs sein konnte, wollte er sterben. Nein, er wollte nicht sterben, er wollte nicht ohne Beine leben. Hat er sich deshalb nicht behandeln lassen? Wie will ein Getriebener denn ohne Beine die Welt sehen? Sein zuhause weit weg von zuhause finden? Und wie er die Welt sehen wollte, so wie er wollte und nie durfte, weil das damals in Deutschland eben so war, für Leute, die nicht wie andere Leute waren. Er wollte aus dem Staat in die Welt und weil er das nicht konnte, hat er die Welt zu sich in den Kopf geholt. Irgendwann ist er damit durchgebrannt, wie eine Birne, die ständig benutzt wird. Meine Mutter erklärt mir dann immer wieso das mit ihm so war und wieso das mit mir nie so werden wird. Das ist nett. Man sagt, die Russen hätten vor seinen Augen die Großeltern erschossen, sein Vater hätte Malaria aus dem Weltkrieg mitgebracht und Geheimnisse, die er mit niemandem teilen konnte. Ich hätte die guten Seiten von ihm geerbt und wir hätten die gleichen Tischmanieren, obwohl wir nie zusammen aßen und beide essen wir am liebsten mit einem ordentlichen Muskelkater. Um mir seine Liebe zu zeigen, schenkte er mir ml ein Messer. Das war seine Sprache, etwas auszudrücken, so wie Caravaggio seine hatte, dessen Bilder wir, laut den Leuten, beide liebten. Ich verstand diesen Liebesbeweis gut. Er war ein Naturmensch. Einmal ist er mit dem Motorrad vor einen Lastwagen geknallt, beim Bergabfahren. Er hat sich noch vor den Sanitätern in den Wald gerettet, um seine eingeschmetterte Gesichtshälfte mit Quellwasser und Kräutern zu kurieren. Zu meiner Geburt war er nicht da, weil die nicht im Wald war. Er kam erst als das Krankenhaus schloss und fuhr mit einer zehn Meter Leiter am Hals Motorrad, um einzubrechen. Meine Mutter lag im zweiten Stock. Zu seiner Beerdigung gehe also auch nicht, er wird’s mir verzeihen, genauso wie ich ihm verziehen habe, mein Leben lang. Hätte mein Alter nur einmal den Tejo gesehen, denkt man dann. Diese Weite, die man nur in Ländern sieht, in denen die Sonne über dem Meer untergeht. Manchmal, wenn ich in Lissabon einen Typen mit Alditüten am Fahrrad sehe, denke ich, für einen Augenblick, er wäre jetzt hier. Ist mit den Alditüten und einer Bayernmütze aus Deutschland mit dem Fahrrad hergefahren, um mich zu sehen. Zu zutrauen wärs ihm, auch aus dem Jenseits. Er liebte die schönsten dummen Dinge der Welt. Sprang gerne bei 80 vom Motorrad oder sprang Ski. Er rauchte Zigarren und war in irgendwas Weltmeister. Ich konnte nie so viel Mist machen. Normalerweise passt der Vater dann auf einen auf und dann man selbst, aber ich musste immer schon selbst auf mich aufpassen. Übernehme seitjeher so viel Verantwortung wie möglich, für mich und mein Leben, das ich von ihm bekommen habe. Erziehung ist scheint für mich wie Weinmachen. Auf die […]

HOTEL AM NACHMITTAG

HOTEL AM NACHMITTAG

Sie fragt, ob alles klar sei, ich wäre gestern komisch gewesen. Ich hätte antworten können, dass ich plötzlich einfach müde war, wie jeder normale Mensch, der das sagt, weil ihn seine Gefühle verwirren und er die liebe spürt und die Anziehung einer anderen zur gleichen Zeit. Man sieht die Frau, die man liebt ganz klar und die, die einen anzieht, am Ende der dunklen Bar eben nicht, obwohl man weiß, dass das, was man da im Dunkeln denkt und gesehen hat, im Hellen nicht hält kann und man die Frau, die man liebt, wieder will. Auf dem Heimweg denkt man darüber nach. Aus Sehnsucht, mich in Worte zu fassen, Straßen, Fado, Bilder, Schlägereien, Wege, die Gefühlen manchmal nehmen um sich auszudrücken. Man leidet und ist voller Spitzen und erst die Dunkelheit jagt das Glück fort und trägt die Furcht, sich zu verlieren, so nahe, dass man sich wieder erkennt. Sie sagt irgendwas, als wäre ich ein Mann, der…und ich versuche es nicht zu berichtigen, es führt zu nichts. Ich müsste die Herkunft meiner Gedanken erklären und die ist unerklärlich, ich weiß nicht woher sie kommen. Ich fürchte, sie könnte denken, dass…, frage aber nicht, sondern mache nur eine dämliche, zärtliche Geste, um mehr herauszufinden, auf die sie mit einem gezwungenen Lächeln reagiert und ich denke, was für ein Idiot ich doch bin, sie in so eine Situation zu bringen und zu fragen, wenn sie doch klar die Kraft aufbringt, wenigstens nicht darüber zu sprechen. Ich sage also nichts. Sie würde mich erstaunt angucken und fragen, wie ich sowas denken kann und ich wäre zu weiteren sinnlosen Verteidigung gezwungen, von etwas, das zu wahr ist, dass man es sagt. Man sagt immer sowieso immer was und fordert dann Milde vom Schicksal für das Gemeinte. Es ist ein scheinheiliges Bedauern, wie Glaube, der doch nichts anderes als die Bestechung des Schicksals ist. Er gewährt einen Kredit, dann warnt er und schlägt zu, wie in den Bildern der spanischen Meister. Ich fürchte die Zukunft nicht. Sie wird zu Gegenwart bevor sie uns trifft, nur, dass die vergeht und etwas einen Wert bekommt, der mir entging. Ein Wort, dass sie sagt, ein Schmuckstück, das mir nicht auffiel, ein Moment, der durch Erwartungen zerstörte wurde und all das, was die Gegenwart schwer macht, bis das zurückbleibt, was sie war, eine schöne Erinnerung. Oder ein dann verpasstes Leben, keinen Schritt weiter, wäre verheerend, interessiert aber keinen, wenn man ihn nicht geht. Ich lebe lieber hier, als ihn woanders zu gehen. Das soll jetzt nicht sagen, wie egal mir das Leben ist, das zeigt, welchen Wert die Stadt für mich hat. Es gibt nichts Vergleichbares, außer sie und nichts, was sich besser mit ihr vergleichen ließe, als diese Stadt. Ich bräuchte es nur mit meinem Gefühl für Lissabon zu vergleichen und alles, was ich in fühle, wäre okay, meint sie, den Kopf auf meiner Brust, in einem Hotel am Nachmittag, den Blick starr im Raum. Andere Städte hätten mich für zwei Tage in Bestform, aber Lissabon in einer Form, die ich als das Gegenteil empfinde. Nur manchmal ist mir Lissabon doch egal und wir finden andere Städte schön, nicht so schön, aber zumindest für eine gewisse Zeit. Wie ich das auf die Liebe beziehen soll, kann ich nicht sagen. Du wirst einen Weg finden, sagt sie, du musst es sagen können, dann kann es auch sein. Oder du hörst auf, Frauen mit Städten zu vergleichen. Nur, weil man nicht immer und überall leidenschaftlich sein kann, heißt es nicht, dass man ohne Leidenschaft ist. Man denkt danach immer, es ist weg, aber es kommt immer wieder, wie Zeit zum schreiben oder gute Zeiten nach Schlechten. Das Denken und die Angst gehören einfach dazu. Sie hätte gelernt, dass man sich schlecht fühlen kann und plötzlich gut und umgedreht und dass es so eigentlich egal ist, wie man sich fühlt, wenn alles, was der Fall ist, die Suche ist, und die ganze endlose Suche dem gilt, wovon alles, nur die Übersetzung ist, heißt es immer lieben und nie ganz. Sie sehe das, wie man einen Sonnenuntergang sieht, der das Licht mit letzter Kraft gegen die Wolken knallt und sie zum Brennen bringt. Immer und immer wieder neu und in den Straßen der Stadt schon Nacht. Ein neuer Körper, ein anderer Duft, Lippen, die sich verziehen, wie man es noch nicht gesehen hat, das ist wundervoll, aber nichts gegen das vertraute Stöhnen eines Menschen, der weiß, was wir wissen. Du musst lernen, dass alles in deiner Vorstellung besser oder schlechter ist, als hier, in einem Hotel am Nachmittag, in einem Bett der Belle Époque. Jedenfalls sehen die Wände des Hotels so aus. Sie formen unsere Lippen aus misstrauischen Gedanken. Klingen wie Séparées und Türen in Wänden, von denen wir nichts wussten. Sie führen ins Bewusstsein unseres Unterbewusstseins, in aufregend, geheime Räume, in denen Treue und Untreue und was das alles soll diese bürgerliche Schwere verliert. Das eine kann das andere sein und noch viel schlimmer. Ihr Parfüm riecht wie der kalte Morgen eines anderen Landes. Sie steht gut ausgezogen am Fenster. Zierlich, wie eine Amazone mit einem Glas Hand. Braun von der Sonne und sorglos in ihrer […]

TERTULIA

TERTULIA

An einem feuchtkalten Januartag im Juni, es war zum Zerreißen kalt, tritt nach durchzechter Nacht, frühmorgens, eine Gruppe Männer in das Lokal, und verlangt nach Kaffee. Sie sehen fertig aus und stinken, riechen das aber nicht. Ihre Anzüge sind geknittert. Der Rest ist von Leidenschaften verzehrt. Von einem Leben, davon, dass sie für all die Momente kämpfen, die in Schönheit und Wahrheit alles überstrahlen und davon, dass sie davon keinem erzählen können, außer denen, die es mit ihnen erleben. Leidenschaft ist vielleicht das schönste Deutsche Wort, das es gibt, auch wenn es nicht so klingt, aber wenn alles in ihnen klar wäre, wären sie dann um diese Zeit ins Lokal kommen? Würden sie ihre Frauen lieben und ihnen alles geben, das Glück, genauso wie das Unglück, das dafür nötig ist. Diese Männer stehen in Verbindung mit ihrem Innersten, ihren Gefühlen und Gedanken und sie kämpfen damit. Sie können nicht anders. Sie müssen es tun und damit ist ihnen genüge getan. Weil sie es tun mussten. Bis hierhin ist der Anfang schon mal schön und gut und geklaut, so schön und gut, dass ich ihn nicht einfach so ungeklaut stehen lassen konnte. Wer auch immer ihn geschrieben hat, hat ihn einfach so stehen lassen und nichts daraus gemacht. Vielleicht hat er ihn aber auch gar nicht selbst geschrieben, sondern auch selbst geklaut und dann stehen lassen. Jetzt gehört er mir, ist mein Text. Vielleicht ist es schon immer meiner gewesen und ich habe nur vergessen, dass ich ihn geschrieben habe. Jedenfalls mache ich was draus, wobei der Anfang so gut ist, dass danach eigentlich gar nichts mehr kommen braucht. Die nächtliche Vergänglichkeit führt sie in eine Bar, dorthin, wo die kleinen Gassen auf großen Plätzen enden. Die Häuser fallen übereinander her. Verträumt blickt die Straße zum Fluss. Portugal hat die Weltkugel auf der Fahne und Melancholie in der Brust. Träume und Trauer. Vor allem morgens, wenn die Zeit stillsteht. Schon mal aufgefallen? Die älteste Nation Europas leidet am Herzweh einer mysteriösen Multiplikation von Gefühlen. Sie leidet nicht am Leid, sie genießt es, erfreut sich daran. Schweigt, steht an Theken und wandert mit den Blicken in die Ferne zur Theke und wieder zurück. Denkt, das blauste Meerwasser ist immer noch uns und wir haben China missioniert, Lissabon erbaut und gehalten, Priester nach Tibet geschickt, das Christentum bis nach Japan geschifft, Märtyrer geschaffen, die Europameisterschaft gewonnen, starke Frauen gezeugt, Brasilien regiert, die ganze Südhalbkugel portugiesisch sprechen lassen, mit Zucker gehandelt, Gewürzen, Menschenleben und Gold. Kaffee kostet hier immer noch 60 Cent und man ist da stolz drauf, wie auf den Largo do Carmo, der jetzt still und friedlich im Zentrum liegt, wie eine Dorf. Jacarandablüten fallen heute noch wie Bomben auf den Platz und verzaubern die Umgebung. Der süßen Seite der Wehmut steht das bittere Erkennen der Realität gegenüber. Ruinen. Die Dinge sind nicht mehr so wie sie sind, man kann sie nicht ändern und hat deshalb Poesie draus gemacht. Dichtet, bis alles verloren ist, aber so lang wird die Gruppe Männer nicht bleiben. Sie sind gekommen, um zu reden, miteinander, von sich, einer von ihnen bin ich […]

TRAGÖDIE

TRAGÖDIE

Manche Parks gehen abends, andere frühs. Der Torel ist so ein Abendpark, ist aber immer zu und am Nachmittag kann man da nicht hin, weil dann alle hingehen. Nachmittags geht man besser in den Botto Machado und frühs in den Jardim do Campo de Santana so wie alle alte Männer mit Tageszeitungen, die sich gut gekämmt auf eine Bank setzen und gucken, was passiert. Wir waren aber neulich auch abends da, weil der Torel zu war und das ging auch. Auch ohne Tageszeitung. Den Park kann man einfach nicht abschließen. Wir standen in einer Gruppe zusammen und einige saßen auch auf den Lehnen der Holzbänke oder auf den Treppen, weil die vom Tag noch schön warm waren. Wind wehte. Es war kalt, aber wir hatten genug getrunken und das Trinken und die Treppen fühlten sich an wie heißer Sand, auf den man seine Haut am Strand gern legte. Die Bäuche waren voll, denn wir kamen von einem schönen Dinner im Zé de Mouraria II, das so gut läuft, weil das Mittagessen im Zé de Mouraria I so lange so verdammt gut gelaufen ist, dass sie ein zweites Lokal aufmachen konnten. Man kann nicht malen, wie wir da gerade gegessen hatten. Der Tisch sah nach dem Essen aus, wie ein Gemälde. Wir kamen rein und Duarte rief gleich den Kellner, Maestre, rief er und fragte, was er dahat. Er wusste, was er will. Carapauzinhos fritos und Tomatenreis und dann Schokoladenmus mit Kaffee und einer Träne Whiskey. Er prüfte das Lokal nach allen Regeln der Kunst. Schaute auf die Öffnungszeiten, sagte gut, samstags nur bis zum Mittag geöffnet, sonntags zu, montags keinen Fisch. Immerhin. Ich sagte doch, er könne mir vertrauen, aber er vertraute keinem Deutschen, der ihm Lokale zeigt. Er war auf dem Hinweg deswegen ganz nervös und aufgeregt gewesen und sein Fado oder Stierkampfkumpel, konnte mich nicht ausstehen. Wieso lassen wir uns von einem Deutschen Plätze und Lokale zeigen, sagte er zu Duarte auf Portugiesisch und dachte, dass ich das nicht gehört hätte, aber ich konnte es hören. Die vielen portugiesischen Gespräche, an denen ich teilnahm, aber nicht mitreden konnte, hatten mir das Zuhören beigebracht. Er war ein sehr bekannter Sänger oder Stierkämpfer oder beides und er stand unter Druck. Er mochte es ganz und gar nicht, dass ich ihn nicht kannte, denn jeder kennt ihn, sagte Duarte und als wir in das Lokal kamen, kannte ihn jeder. Er hatte das Alibi des Gewesenen an sich und hielt sich für den Beschützer einer verlorenen Zeit. Beim Essen erzählte er von glorreichen Donnerstagnächten im Campo Pequeno. Sein Hemd stand dabei weit offen, noch weiter als meins und ich sagte, dass ich das sehen kann. Was, fragte er? Das Hemd und ob es mit Absicht so weit offen ist oder mit Absicht unbeabsichtigt. Man muss so viele offenen Knöpfen schon tragen können. Und wie er sie tragen konnte, als er aufstand und seinen Fado sang und ich seine Rotweinzähne sehen konnte.  Er war ein guter Mann, der nicht schlecht über Frauen redete und nicht davon redete wie viele er gehabt hatte. Man konnte ihm jedoch nichts von Liebe erzählen oder man konnte es schon, aber man bekam dafür keine Anerkennung, nur Sprüche, Phrasen, Ironie, weil er es selbst nicht hatte und haben wollte oder hatte, aber in scheiße und deswegen konnte er es nicht hören, weil er es nicht verstand, vielleicht irgendwo in sich drin, aber dafür war ich zu schwach. Am Ende waren die Jungs total begeistert vom Essen, weil das Brot warm, der Wein gut, der Käse deftig, die Oliven purpurn waren. Der Fadosänger machte sogar Fotos mit mir und fragte, ob ich noch eine Bar kenne, die aufhat und ich sagte, ich kenne zwei. In die eine kann ich nicht und an die andere […]

OHNE GRUND

OHNE GRUND

Es war schön, einen Grund zu haben, frühmorgens durch den Jardim Maîtres da Patria gehen zu müssen, aber es gab kaum einen und niemand, den ich kannte lebte da oder dahinter, also kein Weg führte daran vorbei und keine Lokale, in die wir gingen oder sonst irgendwer gehen konnte, schon gar nicht zu dieser Zeit. Man konnte ja morgens nicht einfach ohne Grund aus dem Haus, bis zum Maîtres da Patria, um Kaffee in der Sonne zu saufen und sich über die Enten zu freuen, die in den beiden Teichen des Parks ihr Zuhause hatten, so wie man es machte, wenn man in die medizinische Fakultät musste, die hinter dem Park lag, um sich auf die Seuche testen zu lassen. Das war so ein Grund und wir wussten es zu schätzen, Sachen auf Wegen zu erledigen, die andere zum Spazieren benutzten und den Park zu sehen, auch wenn das kein guter Grund gewesen war. Andere Orte hatten bessere Gründe, um zu einer Zeit an ihnen zu sein, zu der man sonst nie an ihnen gewesen wäre. Gerade die Baixa. Man konnte da gut was besorgen gehen und auch gut hingehen, wenn man nichts zu besorgen hatte. Man konnte sich die Schuhe wichsen lassen, wenn man welche hatte, die sich wichsen ließen oder eine Morgenausgabe kaufen, wenn man für eine von denen Zeitung schrieb, die der Kiosk daliegen hatte. Man konnte auch Interviews geben, wenn man jemanden kannte, der einen was fragen wollte und am nächsten Tag dann gleich nochmal hin, um in den Morgenausgaben zu lesen, was man nie so gesagt hatte. Aber das kam eigentlich nur einmal vor, in der Zeit, als die internationalen Zeitungen, wegen Schnees in Madrid, nicht in Lissabon ankamen und der Bauch von Jorge explodierte, weil der nie richtig aß, hatten die anderen Schuhputzer gesagt. Zu viel Wein auf leeren Magen, das räche sich halt irgendwann, hatten sie gesagt. Auf jeden Fall kam man hierher, um frühe Frauen zu treffen, die in schönen Kleidern, vor einem geschäftigen Hintergrund, in Cafés saßen und mit anderen frühen Frauen was Eiliges zu besprechen hatten, bevor sie in Kanzleien stiegen oder in Flugzeuge oder in der Stripshow auftraten, die oben am Bogen zum Rossio lag. Ganz im Schatten der Unterstadt, in deren Schluchten immer noch die letzten Reste der Nacht hängen und von Straßenfegern entsorgt werden müssen. Die ganze Angst und das bisschen Rettung, durch die Strahlen eines neuen Tages, der langsam durch die müden Wolken scheint. Kellner stellen Stühle raus. Menschen müssen irgendwo hin und die Eiligkeit steht ihnen, vor der Arbeit, wenn sie noch frisch sind. Sie eilen durch schöne Parks und über weiße Plätze, bevor sich die endlose Kette der Ereignisse in Gang setzt und alle zu spät kommen lässt. Einen nach dem anderen, der wegen dem einen dann den anderen sitzen ließ und der eine, nicht früher zum anderen konnte, weil der zu spät gewesen war, blablabla. Man muss sich die Zeit nehmen, man hat sie nicht und kann nicht am Leben vorbeirennen, wie es sich bietet. Es hat einen Anspruch darauf gelebt zu werden. Oh ich hoffe, dass meine Freundin mich Portugiesisch macht, bevor ich sie Deutsch machen kann. Denn trotz den Gesprächen mit Kellnern und Straßenmenschen komme ich nie zu spät, nirgendwohin, weil ich keine Termine habe. Jacke chronisch über die Schulter geworfen (immer eine dabei). Nicht mal, wenn ich irgendwo hinmuss und spät dran bin und die Jacke am Finger trage und einer ruft: Òla Konstantino, como e que? Pedro aus dem Garaffenladen oder Antonio unter den Arkaden. Die Kellnerinnen der Tendinha oder die Fleischerjungs, aber die kennen meinen Namen nicht, die rufen nur. Am schönsten ist es, wenn die Kellnerinnen rufen, Konstantino querido rufen die dann, Já comeste pequeno-almoço, ob ich schon gefrühstückt habe und ich sage nein und sie rufen, komm her, wir braten dir ein Ei. Das sind so herzliche Frauen und das Highlight ihrer Tage ist, sie im Kalender durchzustreichen oder mir ein Ei zu braten. Sie fragen dann, ob ich wüsste, welchen Tag wir heute haben, damit sie ihn durchstreichen können und ich sage nein. Sie wissen es genau, aber sie wollen es genauer wissen und gehen raus und fragen besser noch mal nach. So ist Lissabon […]

AM HANG LANG

AM HANG LANG

Man schwitzt immer, wenn man oben ist. Es gibt keinen anderen Weg nach oben, der nicht bergauf geht. So ist der Largo da Graça nun mal. Am einfachsten kommt man aus Osten auf ihn hoch, dauert aber auch am längsten und wenn man aus Osten kommt, muss man aus Arroios oder Olaias auf ihn hochgekommen sein und niemand kommt aus Arroios oder Olaias gerne irgendwo hoch. Besser läuft man die Serpentinen hin zum Fluss. Dann bekommt man den Weg nach oben gar nicht so mit. Schöne Aussicht, tolle Erfindung, diese Serpentinen und wenn man ein Rendezvous hat und sich gleich küsst, muss man halt früher hochgehen und irgendwo in einer dunklen Ecke warten bis man wieder getrocknet ist. Fett wird man so nicht. Kann man gar nicht werden, bei den ganzen Hügeln und Treppen hat man sich den Wein abgelaufen, bevor man ihn getrunken hat. Rein damit, aber wo bleibt Pedro, die Sau. Ich warte schon ’ne Stunde auf den Kerl. Eins, zwei Bierchen wollten wir trinken, rumlaufen, was essen. Wo ist geheim. Darf ich nicht sagen, weil man in diesen Tagen ins Gefängnis kommt, wenn man sagt, wer für andere Leute kocht und dann dafür Geld nimmt. Ich warte und warte und warte, warte auf einem Platz, unter dem endlosen grauen Himmel eines Nordatlantiktiefs. Sitze, laufe rum. Warte und schaue in die Schaufenster. Sehe mich und denke, dass ich gar nicht so schlecht in den Fenstern aussehe. Komm, denkt doch jeder mal, wenn er was Neues anhat, aber ich denke dann noch bei wem vorbeizugehen, damit man es sehen kann. Mein neues Hemd ist blau und hat Streifen. Sieht toll aus. Drüber habe ich Hosenträger gelegt. Ich, Ich, Ich, das sagt meine Freundin auch immer. Was haben wir hier nicht für Straßenszenen gemacht, in all diesen Gassen. Stiegen, fielen, starben. Standen wieder auf, um dann noch höher zu steigen, tiefer zu fallen, ohne zu sterben, Himmel und Hölle, Senhora do Monte. Ich sehe einen Typen, so in meinem Alter, der anscheinend auch wartet, und bin froh, dass meine Freundin den nicht sehen kann. Wie gut der beim Warten aussieht, wartet viel besser als ich und sicher ohne den Scheiß, der das Warten mit mir so schwermacht, aber auch nicht so aufregend. Vorne am Geländer lehnen noch zwei Frauen. Jetzt kommt eine dazu und bringt Bier mit. Toll, wie sich die Leute in dieser Stadt begegnen, einfach so, oder lieber nicht, treffen und zusammenkommen, irgendwas zu reden haben, wie auch immer, Was für ein trister Nachmittag das ist. Das ist doch kein gewöhnliches Nordatlantiktief mehr. Der Himmel dieses Nachmittags sieht eher aus, wie der über Neapel, wenn Scirocco weht, wobei der eigentlich nicht weht, der drückt sich heran, trägt den Wind aus Afrika faul übers Meer, hält die versammelte Hitze der Wüste in den Wolken fest. Die Sonne ist seit Tagen nicht zu sehen und der Himmel ist diesig und weiß. Sieht aus wie Smog. Ein glühender dumpfer Punkt. Mehr nicht. Ein Regenhimmel, von dem keine Gefahr ausgeht: der schlimmste Himmel. Er schlägt auf dein Gemüt wie eine drohende Faust, die nur ausholt, wie Streit und wie Schnaps, und hält deine Stimmung fest im Griff und du wartest auf die Erlösung, um dich so oder so zu fühlen, aber nicht mehr so und so. Dazu noch dieses ganze Zeitumstellungsgefühl. Wie kann man die Gefüge der Welt so einfach durcheinanderbringen. Zeit und Raum, Kontinuen, unveränderbare Fakten, sind wir Gott? Es ist spät, aber hell und solange einem das auffällt, ist der Frühling frisch. Der Winter in uns überstanden. Alles poppt, aber langsam, das Schnelle ist eine Erfindung der Pornoindustrie, die es damit schafft sogar schlaue Männer […]

KOLONIAL

KOLONIAL

Wir kamen als Liebespaar auf die Blumeninsel und wollten die Blumeninsel als Liebespaar wieder verlassen. Ein paar Tage Urlaubsstreit und die Suche nach unserer portugiesischen Riviera. Die Insel eignet sich hervorragend für Verliebte. Alles ist sehr grün und sehr blau und sehr schön und das Schöne ist, dass es hier nichts Schönstes und Größtes und Erstes gibt. Die Insel kommt ohne Attraktionen aus. Hat keine Superlative nötig. Sie ist und das ist einfach schön. Man muss nur leichte Weine trinken, Blumen pflücken, die Attraktionen in sich tragen. Es gibt keine Eiffeltürme, Petersdome, Kolosseen. Keine bedeutenden Kunstsammlungen, von denen wir gehört hätten. Nur wurde ihr  von den vielen Kurven ganz schlecht und sie meinte, ich solle die Kurven doch bitte gerader fahren. Es musste so kommen und wir hatten es kommen sehen. Man sieht es immer kommen, kennt die Vorzeichen, fragt sich, wie das nur möglich ist, kann sich aber nicht entziehen und wird von einer unsichtbaren Kraft in den Abgrund gezogen. Man verschwendet seine Zeit nie, solange man sie ehrlich miteinander verbringt, aber wenn man aufeinander wütend ist, ohne etwas zu sagen und sie dann noch das letzte Stück Melone isst, ohne zu fragen, will man umfallen oder sich ins Meer stürzen. Man spricht miteinander und denkt sich zu verstehen, aber versteht nur sein eigenes Gefühl, das man dem anderen unterstellt, aber lassen wir das. Jeder weiß, wie ein Urlaubsstreit funktioniert, wenn alles um einen gut ist und unschuldig blüht. Einziger Unterschied: eine Portugiesin sucht hinter ihren Beschwerden nicht nach Lösungen. Der Deutsche streitet resolutionsorientiert.Ein gutes Essen und Wein und alles ist wieder gut. Man kann sich wieder entspannen und verpasst nichts, wenn man sich entspannt. Man kann mit gutem Gewissen auf den Felsen am Meer liegen, schwimmen gehen, wie verrückt oder bunte Früchte im Liegen essen. An unserem ersten Tag schauten wir, vom Bett aus, einer Gardine beim Wehen zu. Das war alles. Es war ein halbdurchsichtiger, weißer Schleier aus Fantasie, der sich zwischen uns und dem Ausblick bewegte. Durch die Gardine sah man auf den Balkon und vom Balkon durch den Blumengarten hinaus aufs Meer. Die Gardine wehte wie eine Filmszene hinter der stolze Palmen standen und das Blau des Himmels war und ein Horizont so weit und gerade, wie wir ihn noch nie zuvor gesehen hatten. So stelle ich mir das Paradies vor. Die Ewigkeit. Ein lautlos wehender Vorhang, der von einer Prise bewegt wird, die einen trocknet, nachdem man sich von einem bestimmten Gefühl befreit hat. Man macht sich frisch, cremt sich ein, sieht gebräunt aus und setzt sich auf die himmlische Terrasse des Reids Palace Hotels. Einmal im Leben muss man, an einem Nachmittag, auf dieser Terrasse gesessen haben. Nur nicht zum Afternoon Tea, von halb vier bis halb fünf. Das ist einfach eine Stunde, in der man nicht rauchen darf und Tee trinken muss und sich komisch verhält. Alle anderen Stunden auf dieser Terrasse sind selige Stunden und man wird sie von da an immer mit sich herumtragen, egal wo man sitzt. Man wird sich erinnern, wie man nach einem getanen oder nicht getanen Tag, ohne Stress, ohne Verabredungen auf dieser Terrasse saß und sich treiben ließ, von dem, was ist und sein wird und mit dem Aperitivo auf seine Freundin wartet, der sich naturgemäß etwas länger frisch machen muss. Es ist ein wunderbares Gefühl mit dem Aperitivo auf einen Menschen zu warten, den man liebt. Man sieht die Schiffe kommen, auf sich zu, schreibt was auf, erfährt von Duarte und Capela, den Barmännern des Hotels alles über die besten Restaurants und den frischesten Fisch und den neusten Tratsch. Die Wolken sind immer da, sie kommen vom Berg oder verfangen sich dort, aber sie tun einem nichts […]