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BYND

Konstantin Arnold

ALLNACHT

ALLNACHT

Einen Tag, bevor mein Vater starb, ging ich essen. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Es ist eine Feststellung, wie dass das Wetter schlecht ist. Man denkt, man müsste was fühlen oder was sagen, sagt und fühlt aber nichts. Wir kannten uns nicht. Vielleicht zwei, dreimal gesehen, also keine emotionale Beziehung, nur eine höhere, die mir am Abend vorher sagte, dass er morgen dann tot ist. Ich stand im Bairro Alto und schrieb mir das auf. Ansonsten gibt es keine schönen Momente, die jetzt in mir wehtun. Auch keine schlechten. Ich spüre ein paar Worte mit F, viele mit V, und eins mit D. Frieden, Verständnis, Versöhnung, Vergebung, keinen Vorwurf und Dankbarkeit. Von Menschen, die ihn kannten, hör ich, was er nicht für ein Kerl gewesen ist, bevor er eben wurde, wie er war. Tarzan nannten sie ihn. Er konnte Sachen bauen und Sachen kaputtschlagen und sah aus wie ein deutscher Adriano Celentano. Die Weiber werden heute noch feucht und Männer ballen die Fäuste. Das macht mich stolz. Er schien unsterblich. Weine ich deswegen? Sie sagten, er konnte einen Amboss alleine heben und zog die Menschen an wie Fliegen. Es dauert keine Minute und Fremde schütten ihm ihr Herz aus, bis ins letzte Kästchen. Seine raue und bereite Art gab seiner Sensibilität eine Kraft. Dieselbe Kraft sehen sie in mir, sagen sie, um mich zu trösten. Er wäre genauso unterwegs gewesen, jeden Tag, am Anfang mit dem Motorrad, dann dem Fahrrad, am Ende auf Krücken und als er nicht mehr auf Krücken unterwegs sein konnte, wollte er sterben. Nein, er wollte nicht sterben, er wollte nicht ohne Beine leben. Hat er sich deshalb nicht behandeln lassen? Wie will ein Getriebener denn ohne Beine die Welt sehen? Sein zuhause weit weg von zuhause finden? Und wie er die Welt sehen wollte, so wie er wollte und nie durfte, weil das damals in Deutschland eben so war, für Leute, die nicht wie andere Leute waren. Er wollte aus dem Staat in die Welt und weil er das nicht konnte, hat er die Welt zu sich in den Kopf geholt. Irgendwann ist er damit durchgebrannt, wie eine Birne, die ständig benutzt wird. Meine Mutter erklärt mir dann immer wieso das mit ihm so war und wieso das mit mir nie so werden wird. Das ist nett. Man sagt, die Russen hätten vor seinen Augen die Großeltern erschossen, sein Vater hätte Malaria aus dem Weltkrieg mitgebracht und Geheimnisse, die er mit niemandem teilen konnte. Ich hätte die guten Seiten von ihm geerbt und wir hätten die gleichen Tischmanieren, obwohl wir nie zusammen aßen und beide essen wir am liebsten mit einem ordentlichen Muskelkater. Um mir seine Liebe zu zeigen, schenkte er mir ml ein Messer. Das war seine Sprache, etwas auszudrücken, so wie Caravaggio seine hatte, dessen Bilder wir, laut den Leuten, beide liebten. Ich verstand diesen Liebesbeweis gut. Er war ein Naturmensch. Einmal ist er mit dem Motorrad vor einen Lastwagen geknallt, beim Bergabfahren. Er hat sich noch vor den Sanitätern in den Wald gerettet, um seine eingeschmetterte Gesichtshälfte mit Quellwasser und Kräutern zu kurieren. Zu meiner Geburt war er nicht da, weil die nicht im Wald war. Er kam erst als das Krankenhaus schloss und fuhr mit einer zehn Meter Leiter am Hals Motorrad, um einzubrechen. Meine Mutter lag im zweiten Stock. Zu seiner Beerdigung gehe also auch nicht, er wird’s mir verzeihen, genauso wie ich ihm verziehen habe, mein Leben lang. Hätte mein Alter nur einmal den Tejo gesehen, denkt man dann. Diese Weite, die man nur in Ländern sieht, in denen die Sonne über dem Meer untergeht. Manchmal, wenn ich in Lissabon einen Typen mit Alditüten am Fahrrad sehe, denke ich, für einen Augenblick, er wäre jetzt hier. Ist mit den Alditüten und einer Bayernmütze aus Deutschland mit dem Fahrrad hergefahren, um mich zu sehen. Zu zutrauen wärs ihm, auch aus dem Jenseits. Er liebte die schönsten dummen Dinge der Welt. Sprang gerne bei 80 vom Motorrad oder sprang Ski. Er rauchte Zigarren und war in irgendwas Weltmeister. Ich konnte nie so viel Mist machen. Normalerweise passt der Vater dann auf einen auf und dann man selbst, aber ich musste immer schon selbst auf mich aufpassen. Übernehme seitjeher so viel Verantwortung wie möglich, für mich und mein Leben, das ich von ihm bekommen habe. Erziehung ist scheint für mich wie Weinmachen. Auf die […]