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BYND

Konstantin Arnold

PIRATA

PIRATA

Pirata war kein Ort, an den du abends mit jemandem gehst, wenn dir jemand und der Abend etwas bedeuten. Man kam hier alleine her, mittags und an Wochentagen, kurz und ohne Wein, hier aßen Leute, die gearbeitet hatten und auch vorhatten, das nach dem Mittag wieder zu tun. Einfache Leute, die das Leben gut kannten, Taxifahrer, Passmacher, Steuerberater aus dem Viertel, Rentner, die nebenbei weiter Taxifuhren, Notare in durchdachten Anzügen, Beamte, die billige weiße Shirts unter billigen weißen Hemden trugen, Leute von der Post, Gescheiterte, Gewesene und Frauen von Gewesenen, die vom Sein und Sitzen immer dicker wurden. Abends, wenn man Wein wollte und gute Gesellschaft brauchte, kam man hier nicht her, außer, wenn man unbedingt etwas brauchte und auch sonst alles zu hatte und man eh gerade in der Gegend war. Um an den Abenden zu funktionieren war Pirata zu wenig Restaurant und zu viel Kantine. Der Laden bestand aus einem einzigen schmalen Gang, der von einer Theke halbiert wurde, links waren eilig die Hocker, rechts nackte Holztische mit Stühlen hingestellt. An beiden Enden des Ladens hatte man Fernseher angebracht. Die Tageskarte wurde vom Besitzer noch selbst geschrieben und das Essen auf der Karte war immer einfach und ehrlich und gut und billig. Hinter der Theke hingen Karikaturen von Gästen, die das zu schätzen wussten und ein Schild auf dem immer das gleiche steht: Nur Heute, ein Bier und ein Teller Krabben, 2.99. Der Besitzer blieb meistens bis zum Mittag, machte Besorgungen, regelte Papierkram, schrieb die Karte für den nächsten Tag und aß dann sein Lunch, genau wie Senhor Antonio, der aß aber nichts, sondern ging nur. Nach dem Mittag kamen dann der Glatzkopf und das Arschloch und lösten den Besitzer und Antonio von ihrer Schicht ab. Der Glatzkopf war sehr nett und das Arschloch ein Arschloch, weil ihm Pirata doch egal war und jeder der da hinkam. Man sagt, er hätte sich das letzte Mal mit zehn ein Lächeln abgerungen, als ihm klar wurde, dass wir alle sterben. An die Touristen schenkte er schlechten Wein aus, der seine Farbe und Güte lange verloren hatte und durch Zucker und Farbstoff am Leben blieb. Er mochte mich nicht und ich mochte ihn nicht und nachdem ich abends mal mit Leuten da war und er um halb elf schon anfing, die Stühle reinzustellen und uns den Wein vom Tisch nahm, beschwerte ich mich beim Besitzer, zog in ein anderes Viertel und kam nie mehr her. Pirata war tot. Aber das ist alles aus einer Zeit, in der wir zum Mittag oft zu Pirata gingen. Längst vergangen. Eines Tages war ich in der Gegend, um Besorgungen für unsere neue Wohnung zu machen, weil ich noch nicht genau wusste, wo man die bei uns macht. Es war schön, zu sehen, dass viele von den Pennern, die man so kannte, noch am Leben waren und auch sonst alles da war, wo es war. Ich ging in kleine Läden, mit Leuten vom Land, die sehr nett waren, aber keine Besorgungen dahatten. Es war nur nicht so, wie wenn man in der Baixa welche machte und für jede Sache in einen bestimmten Laden ging und sich gut unterhielt und dann für ein Bifana bei Afonso die Rua da Madalena raufgehen konnte. Man konnte sich auch keine Zeitung kaufen oder bei Jorge vorbei und in die Elektrische steigen und Kerzen mit Ausblick kaufen. Übrigens hatte ich Jorge schon eine Weile nicht gesehen, das letzte Mal vor ein paar Wochen. Er merkt seine Narbe jetzt aber nur noch beim Trinken, und wenn er ans alte Lissabon denkt und die neuen Geschäfte, die es aushöhlen, wie er sagt. Drogaria Central, Manteigaria Silva, Casa Macário, das wären noch Läden sagt er und dass es in der Baixa schon noch anständige Geschäfte gibt mit Menschen, die stolz auf das sind, was sie tun und es nicht nur tun, um dann andere Dinge tun zu können. Aber das half nichts, ich musste Besorgungen machen und ich konnte dafür nicht in die Baixa und wusste nicht, wo man die bei uns macht und fuhr in mein altes Viertel […]

TUN & LASSEN

TUN UND LASSEN

Regen ist da. Das sind in Portugal Nachrichten. Vor allem weils dann Pfifferlinge gibt. Der November nimmt sein Recht in Anspruch nass zu sein. Sowas. Stirbt ja sonst keiner und wenn einer stirbt, konzentrieren sich alle schönen Momente in einem schwarzen Loch. Ich glaube fest daran, dass uns ein leidenschaftliches Leben vor dem Tod bewahrt. Das muss auf den Kippenpackungen stehen. Rauchen ist tödlich, na klar, aber Rauchen, ohne Leidenschaft, Leben ohne Liebe, tötet noch mehr. Wer keine Ziele hat, keine Berufung fühlt, morgens nicht gerne aufwacht und denkt, jawoll, jetzt randalier ich mir einen und dann geht’s aber sowas von los, braucht ein Glas an der Bar seines Therapeuten oder sollte sich vom letzten Licht der Welt treffen lassen. Treffpunkt halb 6, Dach der Igreja São Vicente. Man läuft auf dem Dach wie auf dem Mond. Sieht runter zu Dingen, zu denen man sonst raufgeguckt hat. Sieht sie vom Standpunkt der Ewigkeit aus betrachtet, hinter Höfe und Mauern in das Leben der Menschen. Es gibt keinen besseren Blick. Ein Ort, um die Seele im Sattel zu halten. Eine andere Perspektive. Neue Dimensionen. Ein schöner Moment. Das Leben ist den Tod dann wert. Auch wenn das Wetter schlecht ist, aber es war auch so, als ob es nie sonnig gewesen wäre und nie wieder wird. Der Einfluss des Wetters auf die Stunden des Lebens. Klarheit des Tages, Ernst der Nacht. Ist ja nicht so, dass die Alten viel vom Wetter reden, weil sie vor Komplexem kapitulieren, sondern weil es gelöst ist. Früh am Morgen ist das Licht noch wahr, noch hoffen, mittags schon ein Blenden, eine Lüge, und abends eine oder keine, aber Fazit, ein Resultat. Die Nacht ist nur für jene, die das nicht glauben wollen, es nicht einfach hinnehmen, bis sie im neuen Licht vergehen. Die großen Überforderungen sind dann überwunden. Tag, Nacht, Wahr und Falsch, Frage, Antwort, Welt und Gott, Glück und Leid, du und ich, Auf und Untergang. Sie gehen am Himmel ineinander über. Siehst du? Das Schöne des Sonnenuntergangs findet in die andere Richtung statt. Das Licht flieht aus den Straßen über die Türme und den Fluss, über die Ebene zu den Hügeln in die Nacht. Eine einfache mattdunkle Hügelfläche im Dunst, mehr nicht, angemalt am Horizont. Ein Augenblick. Sieht aus, als ob da Feuer hinter den Hügeln in Afrika brennt. Die Flammen spiegeln sich in den Fenstern. Doch das ist passe. Muss einen anderen Einstieg wählen, keine Erinnerung daran. Der Regen ist da. Das sind in Portugal Nachrichten. Der November nimmt sein Recht in Anspruch nass zu sein. Aber es war auch so, als ob es nie sonnig gewesen wäre und nie wieder wird. Es war nicht wie morgens, wenn die Straße wegen der Reinigungsfahrzeuge nass war oder den Sprinklern im Park und man dachte, dass der Regen schon dagewesen war, bevor ihn die Sonne trocknet und der Fluss durch die Bäume und Zäune schimmert, wie die Riviera oder Amalfiküste oder der Lago di Como. Nein, die Parks schön traurig und trist. Leer, außer wenn man selbst durch einen geht, auf nassen Wegen, und sieht, dass der Quiosque doch noch offen hat. Kerzen brennen auf den Tischen. Komm einen trinken wir noch. Stoßen auf Statuen an, die hier von Terrassen gucken, weil der Fluss fließt wie das Meer. Das Pantheon mondfarben, breitbeinig, leuchtend und stolz, oh ich hasse Adjektive, aber wie soll man sonst beschreiben, was da in einem ist. Gott verdammt. Es geht nicht um Dinge oder Tage, sondern was sie in einem auslösen. An den Kleinigkeiten haftet der Eindruck des großen Ganzen ganz groß. Van der Neer hat das gemalt und ich will schreiben, wie der das gemalt hat. Ganz und gar und immer wieder dasselbe Motiv, bis man alles verbrennen möchte und wieder von vorn. Heute malt keiner mehr ein ganzes Gesicht, man deutet es an. Schreibt, bis man […]

HAUS DER HUREN

HAUS DER HUREN

In einer Zeit, die eine schwere Zeit war und vor einer sehr guten Zeit kam, verbrachten wir viele Abendstunden in einem alten Haus unten am Fluss. Das Haus stand in einer steilen Straße, gar nicht weit von uns, und viele Leute gingen daran vorbei ohne zu wissen, was es war oder sich überhaupt einen Gedanken zu machen, was es sein könnte oder was darin ist. Von außen war es heruntergekommen und manche sagten, es sei hässlich, aber das waren die gleichen, die dann sagten, auf die inneren Werte käme es an. Es sah vielleicht nicht aus wie ein Café auf Treppen bei Nacht, aber es wurde sehr schön älter und das meiste, was heute gebaut wurde, sah nur schön aus, solange es neu war, nicht, wenn es älter wurde. Es konnte nicht alt werden, weil es nicht schön war und das Haus war schön und wir mochten es mit jedem Tag mehr und manchmal, wenn wir in guten Zeiten da gewesen waren und es mochten, konnten wir uns nicht vorstellen, dass die Zeiten je wieder schlecht werden konnten, wenn sie einmal so gut waren und umgekehrt. Es schien immer unmöglich, dass es sich jemals wieder änderte. Für viele war das Haus also ein ganz normales altes Haus mit vielen geschlossenen Fenstern und zwei Laternen dran, die an den Wänden hingen und auf die späten Straßen schienen. Wenn Leute wussten, was es war und man sagte, dass man da gewesen ist, kamen die Leute näher und senkten ihre Stimmen und erzählten vorsichtig, wie es früher dort war und ob man wisse, wo man da gewesen wäre. Sie erzählten es immer mit einem Zwinkern und so, als ob beim Reden etwas davon kaputt gehen könnte. Die Leute erzählten sich viele Geschichten, aber nie eine, die so war wie es war. Denn das Haus war gar kein Puff, sondern eine Bar, in die man ging, wenn es sehr spät war und man in ein Restaurant gegangen ist und in eine andere Bar und dann in einen Club und immer noch niemanden abbekommen hatte. Man konnte auch sein eigenes Mädchen mitbringen und daran arbeiten, dass die Zeit wieder besser wurde oder eben schlechter. Alle Männer enden früher oder später an Theken. In guten und in schlechten Zeiten. Mit oder ohne Frauen, aber Männer ohne Frauen waren meistens unerträglich. Sie interessierte dann außer Frauen nur eins, nämlich nichts. Nicht mal schnelle Autos und wenn fuhren sie die ja nur wegen den Frauen. Sie ließen die Abende so lange Nächte werden, bis daraus wieder Tage wurden, mehr nicht. Trotzdem war es sehr schön wieder Menschen an Tischen sitzen zu sehen oder an Theken stehen, die sich unterhalten und die etwas hatten, über das sie sich unterhalten konnten. Hinter der Theke stand Paulo, aber alle nannten ihn nur wie den Schriftsteller Coelho, wir riefen Paulo Coelho, bring uns doch bitte noch zwei. Er war ein wunderbar freundlicher alter Mann, der sich von Haferflocken ernährte und ein sorgfältiges Leben führte, das sah man an seiner Haut und wie er redete und sich bewegte und nie hätte man gedacht, das er sowas machen konnte oder auch nur irgendwas damit zu hatte. Aber die vielen Nächte und die wenigen Tage machten […]

ALLNACHT

ALLNACHT

Einen Tag, bevor mein Vater starb, ging ich essen. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Es ist eine Feststellung, wie dass das Wetter schlecht ist. Man denkt, man müsste was fühlen oder was sagen, sagt und fühlt aber nichts. Wir kannten uns nicht. Vielleicht zwei, dreimal gesehen, also keine emotionale Beziehung, nur eine höhere, die mir am Abend vorher sagte, dass er morgen dann tot ist. Ich stand im Bairro Alto und schrieb mir das auf. Ansonsten gibt es keine schönen Momente, die jetzt in mir wehtun. Auch keine schlechten. Ich spüre ein paar Worte mit F, viele mit V, und eins mit D. Frieden, Verständnis, Versöhnung, Vergebung, keinen Vorwurf und Dankbarkeit. Von Menschen, die ihn kannten, hör ich, was er nicht für ein Kerl gewesen ist, bevor er eben wurde, wie er war. Tarzan nannten sie ihn. Er konnte Sachen bauen und Sachen kaputtschlagen und sah aus wie ein deutscher Adriano Celentano. Die Weiber werden heute noch feucht und Männer ballen die Fäuste. Das macht mich stolz. Er schien unsterblich. Weine ich deswegen? Sie sagten, er konnte einen Amboss alleine heben und zog die Menschen an wie Fliegen. Es dauert keine Minute und Fremde schütten ihm ihr Herz aus, bis ins letzte Kästchen. Seine raue und bereite Art gab seiner Sensibilität eine Kraft. Dieselbe Kraft sehen sie in mir, sagen sie, um mich zu trösten. Er wäre genauso unterwegs gewesen, jeden Tag, am Anfang mit dem Motorrad, dann dem Fahrrad, am Ende auf Krücken und als er nicht mehr auf Krücken unterwegs sein konnte, wollte er sterben. Nein, er wollte nicht sterben, er wollte nicht ohne Beine leben. Hat er sich deshalb nicht behandeln lassen? Wie will ein Getriebener denn ohne Beine die Welt sehen? Sein zuhause weit weg von zuhause finden? Und wie er die Welt sehen wollte, so wie er wollte und nie durfte, weil das damals in Deutschland eben so war, für Leute, die nicht wie andere Leute waren. Er wollte aus dem Staat in die Welt und weil er das nicht konnte, hat er die Welt zu sich in den Kopf geholt. Irgendwann ist er damit durchgebrannt, wie eine Birne, die ständig benutzt wird. Meine Mutter erklärt mir dann immer wieso das mit ihm so war und wieso das mit mir nie so werden wird. Das ist nett. Man sagt, die Russen hätten vor seinen Augen die Großeltern erschossen, sein Vater hätte Malaria aus dem Weltkrieg mitgebracht und Geheimnisse, die er mit niemandem teilen konnte. Ich hätte die guten Seiten von ihm geerbt und wir hätten die gleichen Tischmanieren, obwohl wir nie zusammen aßen und beide essen wir am liebsten mit einem ordentlichen Muskelkater. Um mir seine Liebe zu zeigen, schenkte er mir ml ein Messer. Das war seine Sprache, etwas auszudrücken, so wie Caravaggio seine hatte, dessen Bilder wir, laut den Leuten, beide liebten. Ich verstand diesen Liebesbeweis gut. Er war ein Naturmensch. Einmal ist er mit dem Motorrad vor einen Lastwagen geknallt, beim Bergabfahren. Er hat sich noch vor den Sanitätern in den Wald gerettet, um seine eingeschmetterte Gesichtshälfte mit Quellwasser und Kräutern zu kurieren. Zu meiner Geburt war er nicht da, weil die nicht im Wald war. Er kam erst als das Krankenhaus schloss und fuhr mit einer zehn Meter Leiter am Hals Motorrad, um einzubrechen. Meine Mutter lag im zweiten Stock. Zu seiner Beerdigung gehe also auch nicht, er wird’s mir verzeihen, genauso wie ich ihm verziehen habe, mein Leben lang. Hätte mein Alter nur einmal den Tejo gesehen, denkt man dann. Diese Weite, die man nur in Ländern sieht, in denen die Sonne über dem Meer untergeht. Manchmal, wenn ich in Lissabon einen Typen mit Alditüten am Fahrrad sehe, denke ich, für einen Augenblick, er wäre jetzt hier. Ist mit den Alditüten und einer Bayernmütze aus Deutschland mit dem Fahrrad hergefahren, um mich zu sehen. Zu zutrauen wärs ihm, auch aus dem Jenseits. Er liebte die schönsten dummen Dinge der Welt. Sprang gerne bei 80 vom Motorrad oder sprang Ski. Er rauchte Zigarren und war in irgendwas Weltmeister. Ich konnte nie so viel Mist machen. Normalerweise passt der Vater dann auf einen auf und dann man selbst, aber ich musste immer schon selbst auf mich aufpassen. Übernehme seitjeher so viel Verantwortung wie möglich, für mich und mein Leben, das ich von ihm bekommen habe. Erziehung ist scheint für mich wie Weinmachen. Auf die […]

HOTEL AM NACHMITTAG

HOTEL AM NACHMITTAG

Sie fragt, ob alles klar sei, ich wäre gestern komisch gewesen. Ich hätte antworten können, dass ich plötzlich einfach müde war, wie jeder normale Mensch, der das sagt, weil ihn seine Gefühle verwirren und er die liebe spürt und die Anziehung einer anderen zur gleichen Zeit. Man sieht die Frau, die man liebt ganz klar und die, die einen anzieht, am Ende der dunklen Bar eben nicht, obwohl man weiß, dass das, was man da im Dunkeln denkt und gesehen hat, im Hellen nicht hält kann und man die Frau, die man liebt, wieder will. Auf dem Heimweg denkt man darüber nach. Aus Sehnsucht, mich in Worte zu fassen, Straßen, Fado, Bilder, Schlägereien, Wege, die Gefühlen manchmal nehmen um sich auszudrücken. Man leidet und ist voller Spitzen und erst die Dunkelheit jagt das Glück fort und trägt die Furcht, sich zu verlieren, so nahe, dass man sich wieder erkennt. Sie sagt irgendwas, als wäre ich ein Mann, der…und ich versuche es nicht zu berichtigen, es führt zu nichts. Ich müsste die Herkunft meiner Gedanken erklären und die ist unerklärlich, ich weiß nicht woher sie kommen. Ich fürchte, sie könnte denken, dass…, frage aber nicht, sondern mache nur eine dämliche, zärtliche Geste, um mehr herauszufinden, auf die sie mit einem gezwungenen Lächeln reagiert und ich denke, was für ein Idiot ich doch bin, sie in so eine Situation zu bringen und zu fragen, wenn sie doch klar die Kraft aufbringt, wenigstens nicht darüber zu sprechen. Ich sage also nichts. Sie würde mich erstaunt angucken und fragen, wie ich sowas denken kann und ich wäre zu weiteren sinnlosen Verteidigung gezwungen, von etwas, das zu wahr ist, dass man es sagt. Man sagt immer sowieso immer was und fordert dann Milde vom Schicksal für das Gemeinte. Es ist ein scheinheiliges Bedauern, wie Glaube, der doch nichts anderes als die Bestechung des Schicksals ist. Er gewährt einen Kredit, dann warnt er und schlägt zu, wie in den Bildern der spanischen Meister. Ich fürchte die Zukunft nicht. Sie wird zu Gegenwart bevor sie uns trifft, nur, dass die vergeht und etwas einen Wert bekommt, der mir entging. Ein Wort, dass sie sagt, ein Schmuckstück, das mir nicht auffiel, ein Moment, der durch Erwartungen zerstörte wurde und all das, was die Gegenwart schwer macht, bis das zurückbleibt, was sie war, eine schöne Erinnerung. Oder ein dann verpasstes Leben, keinen Schritt weiter, wäre verheerend, interessiert aber keinen, wenn man ihn nicht geht. Ich lebe lieber hier, als ihn woanders zu gehen. Das soll jetzt nicht sagen, wie egal mir das Leben ist, das zeigt, welchen Wert die Stadt für mich hat. Es gibt nichts Vergleichbares, außer sie und nichts, was sich besser mit ihr vergleichen ließe, als diese Stadt. Ich bräuchte es nur mit meinem Gefühl für Lissabon zu vergleichen und alles, was ich in fühle, wäre okay, meint sie, den Kopf auf meiner Brust, in einem Hotel am Nachmittag, den Blick starr im Raum. Andere Städte hätten mich für zwei Tage in Bestform, aber Lissabon in einer Form, die ich als das Gegenteil empfinde. Nur manchmal ist mir Lissabon doch egal und wir finden andere Städte schön, nicht so schön, aber zumindest für eine gewisse Zeit. Wie ich das auf die Liebe beziehen soll, kann ich nicht sagen. Du wirst einen Weg finden, sagt sie, du musst es sagen können, dann kann es auch sein. Oder du hörst auf, Frauen mit Städten zu vergleichen. Nur, weil man nicht immer und überall leidenschaftlich sein kann, heißt es nicht, dass man ohne Leidenschaft ist. Man denkt danach immer, es ist weg, aber es kommt immer wieder, wie Zeit zum schreiben oder gute Zeiten nach Schlechten. Das Denken und die Angst gehören einfach dazu. Sie hätte gelernt, dass man sich schlecht fühlen kann und plötzlich gut und umgedreht und dass es so eigentlich egal ist, wie man sich fühlt, wenn alles, was der Fall ist, die Suche ist, und die ganze endlose Suche dem gilt, wovon alles, nur die Übersetzung ist, heißt es immer lieben und nie ganz. Sie sehe das, wie man einen Sonnenuntergang sieht, der das Licht mit letzter Kraft gegen die Wolken knallt und sie zum Brennen bringt. Immer und immer wieder neu und in den Straßen der Stadt schon Nacht. Ein neuer Körper, ein anderer Duft, Lippen, die sich verziehen, wie man es noch nicht gesehen hat, das ist wundervoll, aber nichts gegen das vertraute Stöhnen eines Menschen, der weiß, was wir wissen. Du musst lernen, dass alles in deiner Vorstellung besser oder schlechter ist, als hier, in einem Hotel am Nachmittag, in einem Bett der Belle Époque. Jedenfalls sehen die Wände des Hotels so aus. Sie formen unsere Lippen aus misstrauischen Gedanken. Klingen wie Séparées und Türen in Wänden, von denen wir nichts wussten. Sie führen ins Bewusstsein unseres Unterbewusstseins, in aufregend, geheime Räume, in denen Treue und Untreue und was das alles soll diese bürgerliche Schwere verliert. Das eine kann das andere sein und noch viel schlimmer. Ihr Parfüm riecht wie der kalte Morgen eines anderen Landes. Sie steht gut ausgezogen am Fenster. Zierlich, wie eine Amazone mit einem Glas Hand. Braun von der Sonne und sorglos in ihrer […]

MILANO

MILANO

Endlich Sonne in Mailand. Lebensmittelpunkt Mode. Prada, Penner und Espresso. Einkaufen und sich betrinken und endlich diese Pizzadinger von denen Alle reden. Die kalte Luft der Berge verwirrt im Tal. Die Elektrischen fahren gerade irgendwohin. Herbstlich herrlich. Es wird dunkel, lange bevor die Tage zu Ende sind und angenehm auf der Via Alessandro Manzoni, sobald die letzten Modepuppen geschafft aus Geschäften kommen und ihre Einkäufe nachhause schleppen oder schleppen lassen. Das stille Licht der Auslagen fällt leise auf das Pflaster und man schlendert eingeharkt, den Kopf im Kragen, an den Schaufenstern vorbei, wirft, von seinem Glück aus, einen Blick rein, in die Welt der toten Dinge. Es ist schön jung und verliebt in einer anderen Stadt zu sein, ohne sich was kaufen zu müssen. Mein erstes richtiges Mal hier, denn beim ersten Mal, wusste ich noch nicht, wer Puccini ist, Verdi und Antonio Mancini, der das das Aristokratenpack wenigstens in Tränen malt. Ich hatte nur Augen für brave Mailänder Mädchen, dünn und blass, von Beruf Tochter. Ich erinnere mich an eine und den Regen, eine semitransparente Gardine, den Nebel und den Park, den ich von meinem Fenster im Nebel sehen konnte. Heute strahlt der Park im letzten Licht und heißt Giardini Indro Montanelli. Wir gehen gerade durch. Von hier aus weiter bis zum Duomo, auf dem in meiner Erinnerung immer einer Nothing else Matters spielt. Schlendernd durch die Galeria und Caffee bei Camparino im Stehen. Ich weiß jetzt, dass das die Scala ist und die Galeria Vittorio Emanuele heißt. Ich gehe frühs zu Cova und schreibe Briefe. Mittagsessen Milanese. Tragische, schöne Schwere. Im Innenhof stehen Maulbeerbäume und keine Bäume mehr. Ich reduziere die Stadt nicht nur auf Mädchen, die gut gekleidet durch schlechtes Wetter gehen und ihre Einkäufe tragen (lassen). Ich habe den Platz mit dem Leonardo gesehen. Mit einer Frau. Im Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Mailand ist jetzt mehr,  außerdem habe ich Hemingways Farewell to Arms gelesen. Mailand ist jetzt mehr, und Stresa ist wie Mailand mit Meer. Nördliche Tristesse mit südlichem Charme. Am Bahnhof sind drei Schilder, das muss ich erzählen. Eins für die Bar, eins zur Toilette und das, auf dem Uscita steht, zeigt einen Menschen, der sitzt und liest. Über ihm hängt eine Uhr. Irgendwie find ich das schön. Alles ist geordnet und pünktlich, meine Freundin kann nicht glauben, dass das dasselbe Land ist, in dem auch Neapel liegt. 14 Uhr ist aber auch hier immer noch ein guter Morgen. Und wenn man einen Teller Tagliatelle bestellt und dazu Tomaten will, hat man den Tomatensalat, und wenn man nach der Weinkarte fragt, gleich Wein, vier Flaschen, und sein Croissant warm zum Kaffee möchte, kein Croissant, keinen Kaffee, keine Museumstickets, obwohl man doch vor Wochen welche reservieren ließ und auch keine Badehose an, ich gebe auf. Man kann die italienische Art zu kommunizieren, nicht so beschreiben, dass man sieht versteht, denn man versteht sie nicht. Sie führt nirgendwohin. Wir kommen deswegen mindestes genauso kompliziert an wie Hemingway. Einen verpassten Zug später und ein paar Mal falsch umgestiegen, fertig ist der Streit. Ich meinte, ich könnte die Karte besser lesen und dann die Explosion. Stimmung wie nach einer Atombombe. Man hat das Gefühl, das man hat, wenn man durch Orte geht, die sonst sehr belebt sind. Der Rummelplatz ist tot und nass und unheimlich. Aber mit Hass und Wut lässt sich das Gepäck leichter zum Hotel schleppen […]

TERTULIA

TERTULIA

An einem feuchtkalten Januartag im Juni, es war zum Zerreißen kalt, tritt nach durchzechter Nacht, frühmorgens, eine Gruppe Männer in das Lokal, und verlangt nach Kaffee. Sie sehen fertig aus und stinken, riechen das aber nicht. Ihre Anzüge sind geknittert. Der Rest ist von Leidenschaften verzehrt. Von einem Leben, davon, dass sie für all die Momente kämpfen, die in Schönheit und Wahrheit alles überstrahlen und davon, dass sie davon keinem erzählen können, außer denen, die es mit ihnen erleben. Leidenschaft ist vielleicht das schönste Deutsche Wort, das es gibt, auch wenn es nicht so klingt, aber wenn alles in ihnen klar wäre, wären sie dann um diese Zeit ins Lokal kommen? Würden sie ihre Frauen lieben und ihnen alles geben, das Glück, genauso wie das Unglück, das dafür nötig ist. Diese Männer stehen in Verbindung mit ihrem Innersten, ihren Gefühlen und Gedanken und sie kämpfen damit. Sie können nicht anders. Sie müssen es tun und damit ist ihnen genüge getan. Weil sie es tun mussten. Bis hierhin ist der Anfang schon mal schön und gut und geklaut, so schön und gut, dass ich ihn nicht einfach so ungeklaut stehen lassen konnte. Wer auch immer ihn geschrieben hat, hat ihn einfach so stehen lassen und nichts daraus gemacht. Vielleicht hat er ihn aber auch gar nicht selbst geschrieben, sondern auch selbst geklaut und dann stehen lassen. Jetzt gehört er mir, ist mein Text. Vielleicht ist es schon immer meiner gewesen und ich habe nur vergessen, dass ich ihn geschrieben habe. Jedenfalls mache ich was draus, wobei der Anfang so gut ist, dass danach eigentlich gar nichts mehr kommen braucht. Die nächtliche Vergänglichkeit führt sie in eine Bar, dorthin, wo die kleinen Gassen auf großen Plätzen enden. Die Häuser fallen übereinander her. Verträumt blickt die Straße zum Fluss. Portugal hat die Weltkugel auf der Fahne und Melancholie in der Brust. Träume und Trauer. Vor allem morgens, wenn die Zeit stillsteht. Schon mal aufgefallen? Die älteste Nation Europas leidet am Herzweh einer mysteriösen Multiplikation von Gefühlen. Sie leidet nicht am Leid, sie genießt es, erfreut sich daran. Schweigt, steht an Theken und wandert mit den Blicken in die Ferne zur Theke und wieder zurück. Denkt, das blauste Meerwasser ist immer noch uns und wir haben China missioniert, Lissabon erbaut und gehalten, Priester nach Tibet geschickt, das Christentum bis nach Japan geschifft, Märtyrer geschaffen, die Europameisterschaft gewonnen, starke Frauen gezeugt, Brasilien regiert, die ganze Südhalbkugel portugiesisch sprechen lassen, mit Zucker gehandelt, Gewürzen, Menschenleben und Gold. Kaffee kostet hier immer noch 60 Cent und man ist da stolz drauf, wie auf den Largo do Carmo, der jetzt still und friedlich im Zentrum liegt, wie eine Dorf. Jacarandablüten fallen heute noch wie Bomben auf den Platz und verzaubern die Umgebung. Der süßen Seite der Wehmut steht das bittere Erkennen der Realität gegenüber. Ruinen. Die Dinge sind nicht mehr so wie sie sind, man kann sie nicht ändern und hat deshalb Poesie draus gemacht. Dichtet, bis alles verloren ist, aber so lang wird die Gruppe Männer nicht bleiben. Sie sind gekommen, um zu reden, miteinander, von sich, einer von ihnen bin ich […]

AMALFI

AMALFI

Am Ende jenes Sommers wohnten wir auf einem Berg in einem Dorf fast im Himmel, das auf viele andere Dörfer auf anderen Bergen blickte, die auch fast im Himmel waren. Die Berge waren steil und das Meer unerreichbar und keine Stufen führten zum Meer, die man gehen konnte. Enge Straßen liefen entlang der Weintrassen von den Dörfern zum Meer und man sah die Kaps und Buchten, mit den Straßen, die sich in die Ferne schwangen, wie ein sanfter werdendes Vergehen. Meer und Himmel lagen in einem Blau, ohne Grenze, wie Unendlichkeit, die man von den Terrassen aus sehen konnte. Erst am Abend trennten sich Himmel und Erde wolkenlos, bis zum nächsten Tag, und Capri erschien am Horizont und das ganze Meer mit seinen Inseln und Booten, der ganzen gigantischen Golf bis zum Vesuv. Die von der Sonne ausgeblichen Farben kehrten langsam in ihre Dinge zurück und eine Art Ende lag in der Luft. Herbst und Stille, der Geruch von kühler werdendem Grün, dass heimlich in der Dämmerung bewässert wurde. Das Grün hatte viele Farben. Manches war noch jung und fickrig, wie nach einem Vulkanausbruch, anderes sah tausend Jahre alt aus. Grüner und schöner noch als die borromäischen Inseln, der Garten der Villa Orengo und den Kaps der Côte d’Azur, Wagner, Sissi, leider, eigentlich unbeschreiblich und das sage ich nicht einfach so. Ich habe es lange probiert und viel geschrieben, aber nichts, was so ist wie hier. Eine Landschaft ist ja vor allem immer ein Gefühl und das lässt sich nicht beschreiben, nur vielleicht die Landschaft, bei der man es hat. Eine Allee unter Bäumen, von Steinmauern gesäumt, ein Götterquergang, durch den Garten, der am Ende die Klippen hinabstürzen will. Es ist vielleicht der sinnlichste Ort auf der Welt, um sich das Leben zu nehmen. Die Menschen nennen dieses Ende dell’Infinito, trotz seines Geländers und sehen von hier auf die Welt und sehen, dass die Welt doch gut ist, fast Himmel, man berührt ihn ja fast und könnte Göttern glauben, wieso auch nicht? Das Ende des Kaps sah aus wie der Olymp, oder was man sich unter Olymp vorstellt, wenn man mal durch Homers Odyssee geblättert hat. Sirenen mit geflochtenen Haaren und entschlossenen Gesichtern, in offenen, hellenische Kleider, die Fotos für ihr Instagram machen. Der Anblick des Meeres hatte ihnen die Augen blau gefärbt und die Araber, die in den Häfen mit ihren Müttern schliefen, schwarzes Haar und dunkelblonde Haut. Sie heißen Serena oder Gaia, und wollen gar nicht, dass man Kriege für sie führt, nur, aus Sehnsucht zur Antike, sondern nur, dass man sie, kurz bevor die Welt ins Meer fällt, vor diesem Ausblick fotografiert. Abgesehen von denen wussten wir in jenen Tagen nicht, welche Zeit gerade ist und wie spät es war in welcher Epoche. Die  Momente hielten an, wie von Catel und Schinkel gemalt, ohne zu vergehen. Die vielen steilen Treppen hielten die dicken Amerikaner fern und nur manchmal sah man einen Buntangezogenen, durch die Zeitlosigkeit unseres Gartens mähen, wie ein dicker Pflug mit Uhrzeit und Datum dran. Manchmal zogen Gewitter auf und brachten Regen, aber der konnte dem Wetter nichts. Er hatte nicht die gleiche traurige Wirkung. Erst kam Wind und dann Wolken, die den Regen von den höheren Bergen im Süden brachten. Die Boote flohen in ihr Häfen und zogen weiße Linien im Blau, die dann in der Strömung zurückblieben, wie die leise Spur einer Erinnerung. Wir kannten solchen Regen nicht. Er war gnädig und nahm nicht die gesamte Farbe des Himmels in Anspruch, und war auch schon wieder weg. Für einen Moment sah die Welt dann aus, wie ein Glas Rosé, das man gegen die  Sonne hält. Alles war still und die Dinge dampften. Die Nacht kam aus den Tälern und man sah, wo noch überall Häuser waren. Sie schienen einsam und allein in den Bergen wie Sterne oder flimmerten in fernen Buchten über dem Meer. Andere Gewitter verschonten die Tage und kamen bei Nacht. Die waren heftig und blieben lange und die Welt wurde so nass, dass man dachte, sie könnte nie wieder trocken werden. Es regnete in die Träume und man wurde wach, weil der Regen durch die offenen Fenster fiel. Einer von uns musste dann auf die Terrasse, immer ich, und sah raus und spürte die Hitze und sah die Gärten mit den Kieswegen unter mir, schön und grün und nass, und das Meer im Mondlicht. In diesen Nächten, im Hotel, in unserem Zimmer, mit dem Gewitter draußen, und uns im Bett, nachdem man sich von einem bestimmten Gefühl befreit hatte, und den leeren Gängen, wurde man wieder gläubig. Man sagt, wer die Welt so gesehen hat, kann gar nie mehr unglücklich werden […]

TRAGÖDIE

TRAGÖDIE

Manche Parks gehen abends, andere frühs. Der Torel ist so ein Abendpark, ist aber immer zu und am Nachmittag kann man da nicht hin, weil dann alle hingehen. Nachmittags geht man besser in den Botto Machado und frühs in den Jardim do Campo de Santana so wie alle alte Männer mit Tageszeitungen, die sich gut gekämmt auf eine Bank setzen und gucken, was passiert. Wir waren aber neulich auch abends da, weil der Torel zu war und das ging auch. Auch ohne Tageszeitung. Den Park kann man einfach nicht abschließen. Wir standen in einer Gruppe zusammen und einige saßen auch auf den Lehnen der Holzbänke oder auf den Treppen, weil die vom Tag noch schön warm waren. Wind wehte. Es war kalt, aber wir hatten genug getrunken und das Trinken und die Treppen fühlten sich an wie heißer Sand, auf den man seine Haut am Strand gern legte. Die Bäuche waren voll, denn wir kamen von einem schönen Dinner im Zé de Mouraria II, das so gut läuft, weil das Mittagessen im Zé de Mouraria I so lange so verdammt gut gelaufen ist, dass sie ein zweites Lokal aufmachen konnten. Man kann nicht malen, wie wir da gerade gegessen hatten. Der Tisch sah nach dem Essen aus, wie ein Gemälde. Wir kamen rein und Duarte rief gleich den Kellner, Maestre, rief er und fragte, was er dahat. Er wusste, was er will. Carapauzinhos fritos und Tomatenreis und dann Schokoladenmus mit Kaffee und einer Träne Whiskey. Er prüfte das Lokal nach allen Regeln der Kunst. Schaute auf die Öffnungszeiten, sagte gut, samstags nur bis zum Mittag geöffnet, sonntags zu, montags keinen Fisch. Immerhin. Ich sagte doch, er könne mir vertrauen, aber er vertraute keinem Deutschen, der ihm Lokale zeigt. Er war auf dem Hinweg deswegen ganz nervös und aufgeregt gewesen und sein Fado oder Stierkampfkumpel, konnte mich nicht ausstehen. Wieso lassen wir uns von einem Deutschen Plätze und Lokale zeigen, sagte er zu Duarte auf Portugiesisch und dachte, dass ich das nicht gehört hätte, aber ich konnte es hören. Die vielen portugiesischen Gespräche, an denen ich teilnahm, aber nicht mitreden konnte, hatten mir das Zuhören beigebracht. Er war ein sehr bekannter Sänger oder Stierkämpfer oder beides und er stand unter Druck. Er mochte es ganz und gar nicht, dass ich ihn nicht kannte, denn jeder kennt ihn, sagte Duarte und als wir in das Lokal kamen, kannte ihn jeder. Er hatte das Alibi des Gewesenen an sich und hielt sich für den Beschützer einer verlorenen Zeit. Beim Essen erzählte er von glorreichen Donnerstagnächten im Campo Pequeno. Sein Hemd stand dabei weit offen, noch weiter als meins und ich sagte, dass ich das sehen kann. Was, fragte er? Das Hemd und ob es mit Absicht so weit offen ist oder mit Absicht unbeabsichtigt. Man muss so viele offenen Knöpfen schon tragen können. Und wie er sie tragen konnte, als er aufstand und seinen Fado sang und ich seine Rotweinzähne sehen konnte.  Er war ein guter Mann, der nicht schlecht über Frauen redete und nicht davon redete wie viele er gehabt hatte. Man konnte ihm jedoch nichts von Liebe erzählen oder man konnte es schon, aber man bekam dafür keine Anerkennung, nur Sprüche, Phrasen, Ironie, weil er es selbst nicht hatte und haben wollte oder hatte, aber in scheiße und deswegen konnte er es nicht hören, weil er es nicht verstand, vielleicht irgendwo in sich drin, aber dafür war ich zu schwach. Am Ende waren die Jungs total begeistert vom Essen, weil das Brot warm, der Wein gut, der Käse deftig, die Oliven purpurn waren. Der Fadosänger machte sogar Fotos mit mir und fragte, ob ich noch eine Bar kenne, die aufhat und ich sagte, ich kenne zwei. In die eine kann ich nicht und an die andere […]

OHNE GRUND

OHNE GRUND

Es war schön, einen Grund zu haben, frühmorgens durch den Jardim Maîtres da Patria gehen zu müssen, aber es gab kaum einen und niemand, den ich kannte lebte da oder dahinter, also kein Weg führte daran vorbei und keine Lokale, in die wir gingen oder sonst irgendwer gehen konnte, schon gar nicht zu dieser Zeit. Man konnte ja morgens nicht einfach ohne Grund aus dem Haus, bis zum Maîtres da Patria, um Kaffee in der Sonne zu saufen und sich über die Enten zu freuen, die in den beiden Teichen des Parks ihr Zuhause hatten, so wie man es machte, wenn man in die medizinische Fakultät musste, die hinter dem Park lag, um sich auf die Seuche testen zu lassen. Das war so ein Grund und wir wussten es zu schätzen, Sachen auf Wegen zu erledigen, die andere zum Spazieren benutzten und den Park zu sehen, auch wenn das kein guter Grund gewesen war. Andere Orte hatten bessere Gründe, um zu einer Zeit an ihnen zu sein, zu der man sonst nie an ihnen gewesen wäre. Gerade die Baixa. Man konnte da gut was besorgen gehen und auch gut hingehen, wenn man nichts zu besorgen hatte. Man konnte sich die Schuhe wichsen lassen, wenn man welche hatte, die sich wichsen ließen oder eine Morgenausgabe kaufen, wenn man für eine von denen Zeitung schrieb, die der Kiosk daliegen hatte. Man konnte auch Interviews geben, wenn man jemanden kannte, der einen was fragen wollte und am nächsten Tag dann gleich nochmal hin, um in den Morgenausgaben zu lesen, was man nie so gesagt hatte. Aber das kam eigentlich nur einmal vor, in der Zeit, als die internationalen Zeitungen, wegen Schnees in Madrid, nicht in Lissabon ankamen und der Bauch von Jorge explodierte, weil der nie richtig aß, hatten die anderen Schuhputzer gesagt. Zu viel Wein auf leeren Magen, das räche sich halt irgendwann, hatten sie gesagt. Auf jeden Fall kam man hierher, um frühe Frauen zu treffen, die in schönen Kleidern, vor einem geschäftigen Hintergrund, in Cafés saßen und mit anderen frühen Frauen was Eiliges zu besprechen hatten, bevor sie in Kanzleien stiegen oder in Flugzeuge oder in der Stripshow auftraten, die oben am Bogen zum Rossio lag. Ganz im Schatten der Unterstadt, in deren Schluchten immer noch die letzten Reste der Nacht hängen und von Straßenfegern entsorgt werden müssen. Die ganze Angst und das bisschen Rettung, durch die Strahlen eines neuen Tages, der langsam durch die müden Wolken scheint. Kellner stellen Stühle raus. Menschen müssen irgendwo hin und die Eiligkeit steht ihnen, vor der Arbeit, wenn sie noch frisch sind. Sie eilen durch schöne Parks und über weiße Plätze, bevor sich die endlose Kette der Ereignisse in Gang setzt und alle zu spät kommen lässt. Einen nach dem anderen, der wegen dem einen dann den anderen sitzen ließ und der eine, nicht früher zum anderen konnte, weil der zu spät gewesen war, blablabla. Man muss sich die Zeit nehmen, man hat sie nicht und kann nicht am Leben vorbeirennen, wie es sich bietet. Es hat einen Anspruch darauf gelebt zu werden. Oh ich hoffe, dass meine Freundin mich Portugiesisch macht, bevor ich sie Deutsch machen kann. Denn trotz den Gesprächen mit Kellnern und Straßenmenschen komme ich nie zu spät, nirgendwohin, weil ich keine Termine habe. Jacke chronisch über die Schulter geworfen (immer eine dabei). Nicht mal, wenn ich irgendwo hinmuss und spät dran bin und die Jacke am Finger trage und einer ruft: Òla Konstantino, como e que? Pedro aus dem Garaffenladen oder Antonio unter den Arkaden. Die Kellnerinnen der Tendinha oder die Fleischerjungs, aber die kennen meinen Namen nicht, die rufen nur. Am schönsten ist es, wenn die Kellnerinnen rufen, Konstantino querido rufen die dann, Já comeste pequeno-almoço, ob ich schon gefrühstückt habe und ich sage nein und sie rufen, komm her, wir braten dir ein Ei. Das sind so herzliche Frauen und das Highlight ihrer Tage ist, sie im Kalender durchzustreichen oder mir ein Ei zu braten. Sie fragen dann, ob ich wüsste, welchen Tag wir heute haben, damit sie ihn durchstreichen können und ich sage nein. Sie wissen es genau, aber sie wollen es genauer wissen und gehen raus und fragen besser noch mal nach. So ist Lissabon […]