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BYND

Konstantin Arnold

NEVADA

NEVADA

Die schönste Zeit des Jahres fing traurig an. Wir verpassten das Blühen der Bäume. Wir sahen es jeder für sich. Heute weiß ich, dass sie an den Abenden auch an mich dachte, wenn sich die wichtigen unwichtigen Dinge des Tages legten und Musik und Rauch aus den Gassen kamen und die Alten tanzen sah und wieder wusste, dass man stirbt. Ein Lied, ein Geruch, ein Hauch Erinnerung, durch den man sich wiederkennt. Wir verlieren uns ja so im Leben. Hören Volksmusik und riechen Sardinenrauch und träumen von lauen ungeplanten Abenden auf Plätzen, Treppen, Tanzen in Gassen unter Bäumen an eine Kathedrale gelehnt. Wie viele Abende. Der in Penha und der in Campolide und der in Chelas, den wir niemals hatten. Abende wie Fantasien, an denen wir beide in einem möglich waren. Jetzt wird es Abend in Lissabon, wie es nach einer schlechten Zeit gut wird. Man sieht den Abend kommen, nur das Gute sieht man nicht, und das danach. An die Kathedrale gelehnt, in einer Gasse, in der die Leute unseres Viertels tanzen. Der Bäcker, der Metzger, die Wäscherinnen und der Straßenkehrer, ein paar unvermeidliche Deutsche. Manche von ihnen habe ich noch nie Sonntagssachen gesehen. Du kennst mich, ich trage die immer denselben festlichen Aufzug, jeden Tag, aber in diesem Monat nur einen, aus dem der Rauch sowieso nicht mehr rausgeht. Die Flecken geben mir dann einen Grund zur Wäscherei Jaguar zu gehen. Gut, noch eigene Wege zu haben. Was soll ich sonst tun, Touristinnen anmachen? Gedachtes denken, gegangene Wege gehen, wie stehe ich denn jetzt abends wieder an der Bar, an eine Kathedrale im All gelehnt. Ich sehe alles durch Glas, aber nichts dringt mehr ein. Das All um mich bedeutet nichts und nur nichts ist vollkommen. Es gibt kein Copy Paste. Gestern Abend war ich in Penha. Nicht weit von den Treppen an den wir uns trennten. Es ist trotzdem noch eine schöne Straße. Vitor hatte den Grill vor der Tür. Sardinen, Bauchfett und kalten Wein. Ich saß da mit einer. Hübsch, aber nicht so wie Cohen singt. Ein Stück weiter vorn war eine Bühne, auf einer kleinen Wiese, die von gemütlichen Mauern eingefasst war und von Wein und Lichterketten überragt wurde, aber so, dass noch genug Nachthimmel durchschien. Da waren Paar, die sehr gut tanzten. So schön wie Frauen nur schön sein können, die sich küssen. Tanzen konnte die nicht und ich dachte, es ist gut und einfach, sich in schlechten Zeiten zu vermissen, aber besser, es in den guten zu tun. Traurig, weil Santos Populares etwas so Fröhliches ist. Du sagtest mal, there is a Hell in every Hello, a good in every goodbye und a lie in every believe. Manchmal, wenn aus einer schönen Freitagnacht ein langer Samstagmorgen wurde und wir nicht stritten und nicht so verkatert waren und uns lesen ließen, glaubte ich daran. An eine Befriedigung der Seele, die unter alle Ermüdungen nie ermüdet. Eine Bewunderung, ein Streben, das Gefühl, dass du mich noch nie so tanzen sehen hat. Mit Tränen in den Augen. Wieso musstest du mich besitzen? Ich kann mit Erwartungen nicht umgehen und du sagst, ich hätte dich zerstört? Eins gegen eins ist nichts. Und die Lösung des Rätsels keine Lösung und so betrinkt man sich am Wein eines Landes und lässt die Tränen in verwahrloste Gärten fließen. Wein und Weinen, das kann doch kein Zufall sein. Die Tage vom Ende hergedacht. Meine Verflossenen sind wieder mir! Was mich auf komische Gedanken bringt. Die Liebe liegt in manchen Herzen wie in Särgen, pocht an die Welt und will nicht sterben. Ich wollte beweisen, dass […]

KAJAL

KAJAL

Es war immer schön mit Bildern von Malern, die uns besuchten und eins daließen in die Vencedora zu gehen, um es Rahmen zu lassen und nicht zu sagen, dass alles okay ist, wenn es das nicht war, weil man gestritten hatte und wieder wütend aus dem Haus ging. An solchen Tagen wusste ich nie, was ich tun sollte und ging gerne dahin und sprach mit einer Frau, die man im Viertel Candy, die Rahmenmacherin nannte. Bis man sich irgendwo ansehen konnte, wie das Straßenlicht anging. Wir sprachen über alles und die Wut und auch ein bisschen über die Rahmen, dumme bürgerliche Klischees, was richtig wäre und falsch, und das heute viel richtiges falsch ist. Candy meinte, es wäre immer einfach, gute Zeiten mit jemandem zu verbringen, aber schwer in den schlechten, obwohl die sehr wertvoll sind. Schlechte Zeiten könnte man nur mit sehr guten Menschen verbringen. Wir sollten aufhören, das Leben in solche und solche Zeiten zu unterteilen, Wein und keinen Wein, manchmal ist es okay, einfach nur okay zu sein. An solchen Tagen überließ man es besser der Stadt. Einem brennenden Ozean in der Sonne und den Blumen, die nachts ohne Farben blühen. Und so machte ich mich, an solchen Tagen und an anderen, wenn sich der Markt vor unserem Haus leerte und man den Platz wieder sehen konnte, erst beim Antiquar vorbei, um zu sehen, ob er ein neues altes Buch über Lissabon dahatte. Es waren jetzt nur noch wenige Leute da, die gearbeitet hatten und an rotweißkarierten Tischen unter den Bäumen saßen. Mit ihnen und dem Antiquar führte man einfache Gespräche und es waren immer die besten und einfachsten nach einem Tag Arbeit. Ich hatte gerade etwas Geld und es war ein gutes Gefühl, sich was kaufen zu können, wenn man sich was leisten konnte und nicht nur wenn nicht. Eine Flasche Roten für alle, ein altes Buch über Lissabon, eine Zeitung, um zu wissen wann dann die Welt untergeht, Marlboros, und später eine Tasca, in der man essen konnte und der Tag war grenzenlos. Alle kleinen und großen Stunden. Ich zog mich schick an und ging durch die Straßen, zur Feier des Lebens, wie Candy gesagt hatte. Durch meinen Anzug und die Stadt und den Maler hatte ich gelernt, alles, was ich bin, in mein Tun zu legen. Von allen meisten vielleicht doch von ihr, aber sie zählte nicht, weil sie gerade nicht mit mir redete oder ich nicht mit ihr. Mein Telefon ließ ich lieber daheim. Alles schlimme, was jetzt noch passieren konnte, passierte am Telefon, weil es nie was mit dem zu tun hatte, was man gerade sah, tat oder sagte. So war das Heute nun mal, und solange die letzte dicke Oma nicht dünn geworden ist und der letzte alte Mann noch nichts Besseres zu tun hat, als herumzusitzen, hielt ich das auch aus und ging weiter, am Markt vorbei und die Blumenverkäuferin rief und ich sagte nein, danke, heute wäre kein guter Tag für Blumen. Sie fragte warum denn und gab mir Beziehungsratschläge und sagte das gleiche, was auch Inder sagte, bei dem ich meine Zigaretten kaufte, nur dass er es am Beispiel eines fahrenden Autos festmachte, das nicht mehr rollt, weil ein Rad nicht dreht. Mit diesen Leuten konnte man gut reden, weil man nicht darauf achten musste, was man sagte und ob es stimmte und die ganze Wahrheit war, wie mit gewissen gemeinsamen Freunden. In der Tendinha am Rossio machte ich dann erstmal Pause. Stand am Tresen, trank ein Glas, aß frittiertes Seehechtfilet mit Brot und sprach mit Senhor Alfredo über was anderes. Ich hatte mir bis hier her meistens so viele Meinung angehört, dass ich selbst gar keine mehr hatte. Außerdem fand ich den Inder immer etwas extrem, indem was er sagte, vor allem wenn Ramadan war, so wie gerade und die Tage lang. Er durfte nichts, bis die Sonne weg war, und dann durfte er auch nicht alles und […]

PAPPERLAPAPP

PAPPERLAPAPP

Endlich wieder Lissabon. Egal, wo wir waren, ich bin nirgends lieber gewesen, aber es ist gut wieder hier zu sein, auch wenn wir noch nicht ganz da sind, wo wir sind, weil man im Ritz noch nicht ganz in Lissabon ist. Das Hotel ist in Lissabon, aber es ist nicht Lissabon, es sind mehr Leute im Gym als an der Bar. Deswegen sind wir hier. Wir kommen an und fliegen weg und dazwischen bringen wir uns in Ordnung oder erholen uns von uns und vom Rauchen. Stattfinden wir woanders. Alles, was es dann zum Glück braucht, ist Zeit, Lissabon, ein Notizbuch mit weißen Seiten, einen Film in der Kamera, Kippen, Kleingeld zum Essen und keinen Treffen, das wars. Es schreiben wenige Menschen und noch weniger schreiben von Städten, in denen sie leben und Frauen, die sie lieben. Sie schreiben von anderen Städten und anderen Frauen, die sie nicht lieben, und so leben und lieben sie auch. Dabei ist es so ein besonderes Gefühl, von hier morgens, die Avenida zur Arbeit runterzugehen, wenn man hauptberuflich durch die Straßen Lissabons geht. Es ist ein anderes Gefühl, aber ein ganz schön anderes. Am Anfang vergleicht man die Straßen der Stadt noch mit den Straßen der Städte aus denen man gerade gekommen ist. Die Lissabonner Illustrierten und Fußballzeitungen mit internationaler Presse, die in Paris und Wien in den Auslagen der Straßenläden hängt. Dann denkt man sich, dass es schön ist, weil dieses Land auch ohne schlechte Nachrichten auskommen kann, mit denen man nichts anzufangen weiß, außer Heulen. Man weiß bei hundert Toten nicht mehr, was ein einziger ist. Weiß ich, was gerade in der Welt passiert. Sie geht unter, sie verbrennt, alles wie immer, was muss man da noch schreiben? Vielleicht was zur Endzeitstimmung und dem Wunsch einer jeden Generation, dass die Welt mit ihr zu Ende geht, weil sie nicht ertragen kann, dass sie das nicht tut. Sie dreht sich weiter, Tag für Tag, also genießen wir’s bis das Ding in die Luft fliegt und widmen uns den schönen Dingen des Lebens: Frühstück, allein mit Zeitung, ist eben eine Schwäche von mir, aber eine, die in der Tabacaria Monaco gekauft wurde. Die Zeitungen dort lesen sich besser. Es ist wunderbar an einem Morgen nach langer Zeit dort eine Zeitung zu kaufen und in der ersten Etage der Confeitaria Nacional zu sitzen und zu lesen und sich ein Croissant, Espresso, Butter, Rührei mit Schnittlauch und Orangensaft zu bestellen und durch die Fenster auf den Platz, mit der Reiterstatue, zu blicken. Sonniges Schweigen. Tauben grasen wie kleine Kühe im Wind. Penner liegen zwischendrin rum. Eine sehr braungebrannte Frau muss eilig irgendwohin. Ihr Schritt ist so schnell, dass sie selbst kaum mithalten kann. Was sie tut muss sehr wichtig sein. Vielleicht arbeitet sie für eine Zeitung oder ein französisches Arschloch, das mit Mietspekulationen sein Geld verdient. Cat könnte genauso farbvoll in der Sonne laufen, so braungrün und schwarz, sehr gesättigt, aber sie läuft nie so eilig irgendwohin, also schreibe ich über die. Nichts nervt, nur manche Zeitungsüberschriften und das Parkhaus und die Gedanken ans Einkaufszentrum, das aus dem ehemaligen Hotel Francfort entstehen soll und dieses fürchterliche Hotel, dass sie aus dem ehemaligen Hospital am Botto Machado machen und das nächste fürchterliche Hotel, das aus der ersten Etage dieser Confeitaria entstehen wird. Natürlich von Franzosen, den alten Baumeistern. Jetzt wird’s persönlich. Keiner mag euch, tut mir leid, aber man muss so schreiben, wie man hinter dem Rücken über andere redet, sonst ist es nichts. Ich bin ja auch Investor. Ich investiere in alte Cafés und halte die Bars am Leben, gehe in die dreckigsten Tascas, obwohl ich weiß, dass man stirbt, wenn man zu viel von denen isst. Jorge, der Schuhputzer, ist fast an ihnen gestorben. Manchmal gehe ich rein und bestelle einen Pfirsich, um ihnen das Wechselgeld dazulassen. Sie […]

ALVALADE

ALVALADE

Ganz ehrlich, es kotzt mich an und es ist so schön, das Leben lässt sich nicht fassen. Man schreibt was, von dem man denkt, dass es so ist und bevor man es geschrieben hat, ist es schon nicht mehr. Wortgewordenes Denken ist das und das kann sonst was sein, Probleme, die es nicht gibt, Gedanken, die man sich macht, Gefühl, die man nie hatte. Wie soll man so arbeiten? Eine These, die ich zu widerlegen suche, dass man sich an alles gewöhnt, ans Schlechte, aber auch an das Gute. Die Dinge schätzen und mehr davon wollen, menschlich, wie soll das gehen? Man sehnt sich nach einem Leben und wenn man es hat, sehnt man sich nicht mehr? Fragt sich, ist das alles, und wie wäre es, wenn. Geht mit der Erfüllung eines Traums, also der Traum verloren? Nein, geht er nicht, und das ist kein Optimismus im Angesicht der Wahrheit, sondern die Wahrheit selbst. Ich wollte immer so einen Blick und ich sehe ihn jeden Tag und kann ihn jeden Tag nicht fassen. Da steht ein Segelschiff im Hafen verdammt und es dämmert und ich kann das sehen. Von einem Stuhl in Lissabon aus, nachdem wir an der Promenade lang sind und mit den Fischern redeten und uns eine Ausstellung ansahen und uns liebten und im Park saßen und nach dem Mittag frühstückten, weil wir gestern bis in die Puppen Uhr weg waren. Sie gibt mir, was ich ihr nicht geben kann und umgekehrt. Kongenial ist das oder Congeniali, das ist besser, weil das italienisch ist und alles, was italienisch ist, nicht schlimm ist. Mein Gefühl kommt über alles hinaus, sprengt, die Grenzen einer Welt im Kopf, die wir uns mit den wenigen Worten erklären, die wir kennen. Ich bin nicht der Typ, der Träume hat und bald 32 wird und mehr vom Leben will, als ein Salzbad, in dem er was von Thomas Mann lesen kann. Ich will abends am Balkonfenster sitzen und rauchen, obwohl mir das Leben so lieb ist, oder gerade deswegen. Ich unterteile das Leben nicht in gute oder schlechte Zeiten, denn viele schlechten Zeiten sind besser, als die guten und nur die guten, machen die schlechten schlecht und so weiter. Ich habe gehört, Sehnsucht wäre alle unerfüllten Wünsche und diese Unerfüllung ist in Erfüllung gegangen mit ihr. Sehnsucht nach dem, was man hat. Haben, Halten, Motus Animi Continuus, Thomas Manns Tod in Venedig, ich selber kenne solche Lateinischen Worte nicht. Es reizt der Weg, deswegen sind wir unterwegs. Selbst dienstags. Wir haben da dieses Ding, dass wir uns in irgendeinem Viertel auf ein Date treffen, gestern war Alvalade dran. Wir lagen bis abends im Bett und scheiterten an uns und heulten, dass uns im Old Vic die Augen brannten. Das ist eine Bar in der Travessa Henrique Cardoso, genau mein Ding. Die Kellner sind sehr nett und schreiben an und leihen einem Kippen aus ihrem Privatvermögen, wenn man keine mehr hat. Wir kommen ihnen mit immer neuen Drinks, die sie dann lernen und so lange sie die Drinks lernen und noch nicht mixen, schreiben sie die nicht an. Wir sitzen also auf hohen Hockern und hoffen und haben durchs Heulen die Augen von Neugeborenen, können die Dinger kaum offenhalten. Kann am Rauch liegen, kanns aber auch nicht. Unser Tisch wackelt und wir reden kein Wort und denken oh je das wars jetzt und dann reden wir doch und denken es nicht mehr und haben Probleme gelöst, die es nie gab und nicht geben wird, bis auf den Tisch, was für eine Nacht. Sie trägt mein Kleid durch die Nacht. Sowas kaufe ich gerne, lieber als was […]

PIRATA

PIRATA

Pirata war kein Ort, an den du abends mit jemandem gehst, wenn dir jemand und der Abend etwas bedeuten. Man kam hier alleine her, mittags und an Wochentagen, kurz und ohne Wein, hier aßen Leute, die gearbeitet hatten und auch vorhatten, das nach dem Mittag wieder zu tun. Einfache Leute, die das Leben gut kannten, Taxifahrer, Passmacher, Steuerberater aus dem Viertel, Rentner, die nebenbei weiter Taxifuhren, Notare in durchdachten Anzügen, Beamte, die billige weiße Shirts unter billigen weißen Hemden trugen, Leute von der Post, Gescheiterte, Gewesene und Frauen von Gewesenen, die vom Sein und Sitzen immer dicker wurden. Abends, wenn man Wein wollte und gute Gesellschaft brauchte, kam man hier nicht her, außer, wenn man unbedingt etwas brauchte und auch sonst alles zu hatte und man eh gerade in der Gegend war. Um an den Abenden zu funktionieren war Pirata zu wenig Restaurant und zu viel Kantine. Der Laden bestand aus einem einzigen schmalen Gang, der von einer Theke halbiert wurde, links waren eilig die Hocker, rechts nackte Holztische mit Stühlen hingestellt. An beiden Enden des Ladens hatte man Fernseher angebracht. Die Tageskarte wurde vom Besitzer noch selbst geschrieben und das Essen auf der Karte war immer einfach und ehrlich und gut und billig. Hinter der Theke hingen Karikaturen von Gästen, die das zu schätzen wussten und ein Schild auf dem immer das gleiche steht: Nur Heute, ein Bier und ein Teller Krabben, 2.99. Der Besitzer blieb meistens bis zum Mittag, machte Besorgungen, regelte Papierkram, schrieb die Karte für den nächsten Tag und aß dann sein Lunch, genau wie Senhor Antonio, der aß aber nichts, sondern ging nur. Nach dem Mittag kamen dann der Glatzkopf und das Arschloch und lösten den Besitzer und Antonio von ihrer Schicht ab. Der Glatzkopf war sehr nett und das Arschloch ein Arschloch, weil ihm Pirata doch egal war und jeder der da hinkam. Man sagt, er hätte sich das letzte Mal mit zehn ein Lächeln abgerungen, als ihm klar wurde, dass wir alle sterben. An die Touristen schenkte er schlechten Wein aus, der seine Farbe und Güte lange verloren hatte und durch Zucker und Farbstoff am Leben blieb. Er mochte mich nicht und ich mochte ihn nicht und nachdem ich abends mal mit Leuten da war und er um halb elf schon anfing, die Stühle reinzustellen und uns den Wein vom Tisch nahm, beschwerte ich mich beim Besitzer, zog in ein anderes Viertel und kam nie mehr her. Pirata war tot. Aber das ist alles aus einer Zeit, in der wir zum Mittag oft zu Pirata gingen. Längst vergangen. Eines Tages war ich in der Gegend, um Besorgungen für unsere neue Wohnung zu machen, weil ich noch nicht genau wusste, wo man die bei uns macht. Es war schön, zu sehen, dass viele von den Pennern, die man so kannte, noch am Leben waren und auch sonst alles da war, wo es war. Ich ging in kleine Läden, mit Leuten vom Land, die sehr nett waren, aber keine Besorgungen dahatten. Es war nur nicht so, wie wenn man in der Baixa welche machte und für jede Sache in einen bestimmten Laden ging und sich gut unterhielt und dann für ein Bifana bei Afonso die Rua da Madalena raufgehen konnte. Man konnte sich auch keine Zeitung kaufen oder bei Jorge vorbei und in die Elektrische steigen und Kerzen mit Ausblick kaufen. Übrigens hatte ich Jorge schon eine Weile nicht gesehen, das letzte Mal vor ein paar Wochen. Er merkt seine Narbe jetzt aber nur noch beim Trinken, und wenn er ans alte Lissabon denkt und die neuen Geschäfte, die es aushöhlen, wie er sagt. Drogaria Central, Manteigaria Silva, Casa Macário, das wären noch Läden sagt er und dass es in der Baixa schon noch anständige Geschäfte gibt mit Menschen, die stolz auf das sind, was sie tun und es nicht nur tun, um dann andere Dinge tun zu können. Aber das half nichts, ich musste Besorgungen machen und ich konnte dafür nicht in die Baixa und wusste nicht, wo man die bei uns macht und fuhr in mein altes Viertel […]

TUN & LASSEN

TUN UND LASSEN

Regen ist da. Das sind in Portugal Nachrichten. Vor allem weils dann Pfifferlinge gibt. Der November nimmt sein Recht in Anspruch nass zu sein. Sowas. Stirbt ja sonst keiner und wenn einer stirbt, konzentrieren sich alle schönen Momente in einem schwarzen Loch. Ich glaube fest daran, dass uns ein leidenschaftliches Leben vor dem Tod bewahrt. Das muss auf den Kippenpackungen stehen. Rauchen ist tödlich, na klar, aber Rauchen, ohne Leidenschaft, Leben ohne Liebe, tötet noch mehr. Wer keine Ziele hat, keine Berufung fühlt, morgens nicht gerne aufwacht und denkt, jawoll, jetzt randalier ich mir einen und dann geht’s aber sowas von los, braucht ein Glas an der Bar seines Therapeuten oder sollte sich vom letzten Licht der Welt treffen lassen. Treffpunkt halb 6, Dach der Igreja São Vicente. Man läuft auf dem Dach wie auf dem Mond. Sieht runter zu Dingen, zu denen man sonst raufgeguckt hat. Sieht sie vom Standpunkt der Ewigkeit aus betrachtet, hinter Höfe und Mauern in das Leben der Menschen. Es gibt keinen besseren Blick. Ein Ort, um die Seele im Sattel zu halten. Eine andere Perspektive. Neue Dimensionen. Ein schöner Moment. Das Leben ist den Tod dann wert. Auch wenn das Wetter schlecht ist, aber es war auch so, als ob es nie sonnig gewesen wäre und nie wieder wird. Der Einfluss des Wetters auf die Stunden des Lebens. Klarheit des Tages, Ernst der Nacht. Ist ja nicht so, dass die Alten viel vom Wetter reden, weil sie vor Komplexem kapitulieren, sondern weil es gelöst ist. Früh am Morgen ist das Licht noch wahr, noch hoffen, mittags schon ein Blenden, eine Lüge, und abends eine oder keine, aber Fazit, ein Resultat. Die Nacht ist nur für jene, die das nicht glauben wollen, es nicht einfach hinnehmen, bis sie im neuen Licht vergehen. Die großen Überforderungen sind dann überwunden. Tag, Nacht, Wahr und Falsch, Frage, Antwort, Welt und Gott, Glück und Leid, du und ich, Auf und Untergang. Sie gehen am Himmel ineinander über. Siehst du? Das Schöne des Sonnenuntergangs findet in die andere Richtung statt. Das Licht flieht aus den Straßen über die Türme und den Fluss, über die Ebene zu den Hügeln in die Nacht. Eine einfache mattdunkle Hügelfläche im Dunst, mehr nicht, angemalt am Horizont. Ein Augenblick. Sieht aus, als ob da Feuer hinter den Hügeln in Afrika brennt. Die Flammen spiegeln sich in den Fenstern. Doch das ist passe. Muss einen anderen Einstieg wählen, keine Erinnerung daran. Der Regen ist da. Das sind in Portugal Nachrichten. Der November nimmt sein Recht in Anspruch nass zu sein. Aber es war auch so, als ob es nie sonnig gewesen wäre und nie wieder wird. Es war nicht wie morgens, wenn die Straße wegen der Reinigungsfahrzeuge nass war oder den Sprinklern im Park und man dachte, dass der Regen schon dagewesen war, bevor ihn die Sonne trocknet und der Fluss durch die Bäume und Zäune schimmert, wie die Riviera oder Amalfiküste oder der Lago di Como. Nein, die Parks schön traurig und trist. Leer, außer wenn man selbst durch einen geht, auf nassen Wegen, und sieht, dass der Quiosque doch noch offen hat. Kerzen brennen auf den Tischen. Komm einen trinken wir noch. Stoßen auf Statuen an, die hier von Terrassen gucken, weil der Fluss fließt wie das Meer. Das Pantheon mondfarben, breitbeinig, leuchtend und stolz, oh ich hasse Adjektive, aber wie soll man sonst beschreiben, was da in einem ist. Gott verdammt. Es geht nicht um Dinge oder Tage, sondern was sie in einem auslösen. An den Kleinigkeiten haftet der Eindruck des großen Ganzen ganz groß. Van der Neer hat das gemalt und ich will schreiben, wie der das gemalt hat. Ganz und gar und immer wieder dasselbe Motiv, bis man alles verbrennen möchte und wieder von vorn. Heute malt keiner mehr ein ganzes Gesicht, man deutet es an. Schreibt, bis man […]

HAUS DER HUREN

HAUS DER HUREN

In einer Zeit, die eine schwere Zeit war und vor einer sehr guten Zeit kam, verbrachten wir viele Abendstunden in einem alten Haus unten am Fluss. Das Haus stand in einer steilen Straße, gar nicht weit von uns, und viele Leute gingen daran vorbei ohne zu wissen, was es war oder sich überhaupt einen Gedanken zu machen, was es sein könnte oder was darin ist. Von außen war es heruntergekommen und manche sagten, es sei hässlich, aber das waren die gleichen, die dann sagten, auf die inneren Werte käme es an. Es sah vielleicht nicht aus wie ein Café auf Treppen bei Nacht, aber es wurde sehr schön älter und das meiste, was heute gebaut wurde, sah nur schön aus, solange es neu war, nicht, wenn es älter wurde. Es konnte nicht alt werden, weil es nicht schön war und das Haus war schön und wir mochten es mit jedem Tag mehr und manchmal, wenn wir in guten Zeiten da gewesen waren und es mochten, konnten wir uns nicht vorstellen, dass die Zeiten je wieder schlecht werden konnten, wenn sie einmal so gut waren und umgekehrt. Es schien immer unmöglich, dass es sich jemals wieder änderte. Für viele war das Haus also ein ganz normales altes Haus mit vielen geschlossenen Fenstern und zwei Laternen dran, die an den Wänden hingen und auf die späten Straßen schienen. Wenn Leute wussten, was es war und man sagte, dass man da gewesen ist, kamen die Leute näher und senkten ihre Stimmen und erzählten vorsichtig, wie es früher dort war und ob man wisse, wo man da gewesen wäre. Sie erzählten es immer mit einem Zwinkern und so, als ob beim Reden etwas davon kaputt gehen könnte. Die Leute erzählten sich viele Geschichten, aber nie eine, die so war wie es war. Denn das Haus war gar kein Puff, sondern eine Bar, in die man ging, wenn es sehr spät war und man in ein Restaurant gegangen ist und in eine andere Bar und dann in einen Club und immer noch niemanden abbekommen hatte. Man konnte auch sein eigenes Mädchen mitbringen und daran arbeiten, dass die Zeit wieder besser wurde oder eben schlechter. Alle Männer enden früher oder später an Theken. In guten und in schlechten Zeiten. Mit oder ohne Frauen, aber Männer ohne Frauen waren meistens unerträglich. Sie interessierte dann außer Frauen nur eins, nämlich nichts. Nicht mal schnelle Autos und wenn fuhren sie die ja nur wegen den Frauen. Sie ließen die Abende so lange Nächte werden, bis daraus wieder Tage wurden, mehr nicht. Trotzdem war es sehr schön wieder Menschen an Tischen sitzen zu sehen oder an Theken stehen, die sich unterhalten und die etwas hatten, über das sie sich unterhalten konnten. Hinter der Theke stand Paulo, aber alle nannten ihn nur wie den Schriftsteller Coelho, wir riefen Paulo Coelho, bring uns doch bitte noch zwei. Er war ein wunderbar freundlicher alter Mann, der sich von Haferflocken ernährte und ein sorgfältiges Leben führte, das sah man an seiner Haut und wie er redete und sich bewegte und nie hätte man gedacht, das er sowas machen konnte oder auch nur irgendwas damit zu hatte. Aber die vielen Nächte und die wenigen Tage machten […]

ALLNACHT

ALLNACHT

Einen Tag, bevor mein Vater starb, ging ich essen. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Es ist eine Feststellung, wie dass das Wetter schlecht ist. Man denkt, man müsste was fühlen oder was sagen, sagt und fühlt aber nichts. Wir kannten uns nicht. Vielleicht zwei, dreimal gesehen, also keine emotionale Beziehung, nur eine höhere, die mir am Abend vorher sagte, dass er morgen dann tot ist. Ich stand im Bairro Alto und schrieb mir das auf. Ansonsten gibt es keine schönen Momente, die jetzt in mir wehtun. Auch keine schlechten. Ich spüre ein paar Worte mit F, viele mit V, und eins mit D. Frieden, Verständnis, Versöhnung, Vergebung, keinen Vorwurf und Dankbarkeit. Von Menschen, die ihn kannten, hör ich, was er nicht für ein Kerl gewesen ist, bevor er eben wurde, wie er war. Tarzan nannten sie ihn. Er konnte Sachen bauen und Sachen kaputtschlagen und sah aus wie ein deutscher Adriano Celentano. Die Weiber werden heute noch feucht und Männer ballen die Fäuste. Das macht mich stolz. Er schien unsterblich. Weine ich deswegen? Sie sagten, er konnte einen Amboss alleine heben und zog die Menschen an wie Fliegen. Es dauert keine Minute und Fremde schütten ihm ihr Herz aus, bis ins letzte Kästchen. Seine raue und bereite Art gab seiner Sensibilität eine Kraft. Dieselbe Kraft sehen sie in mir, sagen sie, um mich zu trösten. Er wäre genauso unterwegs gewesen, jeden Tag, am Anfang mit dem Motorrad, dann dem Fahrrad, am Ende auf Krücken und als er nicht mehr auf Krücken unterwegs sein konnte, wollte er sterben. Nein, er wollte nicht sterben, er wollte nicht ohne Beine leben. Hat er sich deshalb nicht behandeln lassen? Wie will ein Getriebener denn ohne Beine die Welt sehen? Sein zuhause weit weg von zuhause finden? Und wie er die Welt sehen wollte, so wie er wollte und nie durfte, weil das damals in Deutschland eben so war, für Leute, die nicht wie andere Leute waren. Er wollte aus dem Staat in die Welt und weil er das nicht konnte, hat er die Welt zu sich in den Kopf geholt. Irgendwann ist er damit durchgebrannt, wie eine Birne, die ständig benutzt wird. Meine Mutter erklärt mir dann immer wieso das mit ihm so war und wieso das mit mir nie so werden wird. Das ist nett. Man sagt, die Russen hätten vor seinen Augen die Großeltern erschossen, sein Vater hätte Malaria aus dem Weltkrieg mitgebracht und Geheimnisse, die er mit niemandem teilen konnte. Ich hätte die guten Seiten von ihm geerbt und wir hätten die gleichen Tischmanieren, obwohl wir nie zusammen aßen und beide essen wir am liebsten mit einem ordentlichen Muskelkater. Um mir seine Liebe zu zeigen, schenkte er mir ml ein Messer. Das war seine Sprache, etwas auszudrücken, so wie Caravaggio seine hatte, dessen Bilder wir, laut den Leuten, beide liebten. Ich verstand diesen Liebesbeweis gut. Er war ein Naturmensch. Einmal ist er mit dem Motorrad vor einen Lastwagen geknallt, beim Bergabfahren. Er hat sich noch vor den Sanitätern in den Wald gerettet, um seine eingeschmetterte Gesichtshälfte mit Quellwasser und Kräutern zu kurieren. Zu meiner Geburt war er nicht da, weil die nicht im Wald war. Er kam erst als das Krankenhaus schloss und fuhr mit einer zehn Meter Leiter am Hals Motorrad, um einzubrechen. Meine Mutter lag im zweiten Stock. Zu seiner Beerdigung gehe also auch nicht, er wird’s mir verzeihen, genauso wie ich ihm verziehen habe, mein Leben lang. Hätte mein Alter nur einmal den Tejo gesehen, denkt man dann. Diese Weite, die man nur in Ländern sieht, in denen die Sonne über dem Meer untergeht. Manchmal, wenn ich in Lissabon einen Typen mit Alditüten am Fahrrad sehe, denke ich, für einen Augenblick, er wäre jetzt hier. Ist mit den Alditüten und einer Bayernmütze aus Deutschland mit dem Fahrrad hergefahren, um mich zu sehen. Zu zutrauen wärs ihm, auch aus dem Jenseits. Er liebte die schönsten dummen Dinge der Welt. Sprang gerne bei 80 vom Motorrad oder sprang Ski. Er rauchte Zigarren und war in irgendwas Weltmeister. Ich konnte nie so viel Mist machen. Normalerweise passt der Vater dann auf einen auf und dann man selbst, aber ich musste immer schon selbst auf mich aufpassen. Übernehme seitjeher so viel Verantwortung wie möglich, für mich und mein Leben, das ich von ihm bekommen habe. Erziehung ist scheint für mich wie Weinmachen. Auf die […]

HOTEL AM NACHMITTAG

HOTEL AM NACHMITTAG

Sie fragt, ob alles klar sei, ich wäre gestern komisch gewesen. Ich hätte antworten können, dass ich plötzlich einfach müde war, wie jeder normale Mensch, der das sagt, weil ihn seine Gefühle verwirren und er die liebe spürt und die Anziehung einer anderen zur gleichen Zeit. Man sieht die Frau, die man liebt ganz klar und die, die einen anzieht, am Ende der dunklen Bar eben nicht, obwohl man weiß, dass das, was man da im Dunkeln denkt und gesehen hat, im Hellen nicht hält kann und man die Frau, die man liebt, wieder will. Auf dem Heimweg denkt man darüber nach. Aus Sehnsucht, mich in Worte zu fassen, Straßen, Fado, Bilder, Schlägereien, Wege, die Gefühlen manchmal nehmen um sich auszudrücken. Man leidet und ist voller Spitzen und erst die Dunkelheit jagt das Glück fort und trägt die Furcht, sich zu verlieren, so nahe, dass man sich wieder erkennt. Sie sagt irgendwas, als wäre ich ein Mann, der…und ich versuche es nicht zu berichtigen, es führt zu nichts. Ich müsste die Herkunft meiner Gedanken erklären und die ist unerklärlich, ich weiß nicht woher sie kommen. Ich fürchte, sie könnte denken, dass…, frage aber nicht, sondern mache nur eine dämliche, zärtliche Geste, um mehr herauszufinden, auf die sie mit einem gezwungenen Lächeln reagiert und ich denke, was für ein Idiot ich doch bin, sie in so eine Situation zu bringen und zu fragen, wenn sie doch klar die Kraft aufbringt, wenigstens nicht darüber zu sprechen. Ich sage also nichts. Sie würde mich erstaunt angucken und fragen, wie ich sowas denken kann und ich wäre zu weiteren sinnlosen Verteidigung gezwungen, von etwas, das zu wahr ist, dass man es sagt. Man sagt immer sowieso immer was und fordert dann Milde vom Schicksal für das Gemeinte. Es ist ein scheinheiliges Bedauern, wie Glaube, der doch nichts anderes als die Bestechung des Schicksals ist. Er gewährt einen Kredit, dann warnt er und schlägt zu, wie in den Bildern der spanischen Meister. Ich fürchte die Zukunft nicht. Sie wird zu Gegenwart bevor sie uns trifft, nur, dass die vergeht und etwas einen Wert bekommt, der mir entging. Ein Wort, dass sie sagt, ein Schmuckstück, das mir nicht auffiel, ein Moment, der durch Erwartungen zerstörte wurde und all das, was die Gegenwart schwer macht, bis das zurückbleibt, was sie war, eine schöne Erinnerung. Oder ein dann verpasstes Leben, keinen Schritt weiter, wäre verheerend, interessiert aber keinen, wenn man ihn nicht geht. Ich lebe lieber hier, als ihn woanders zu gehen. Das soll jetzt nicht sagen, wie egal mir das Leben ist, das zeigt, welchen Wert die Stadt für mich hat. Es gibt nichts Vergleichbares, außer sie und nichts, was sich besser mit ihr vergleichen ließe, als diese Stadt. Ich bräuchte es nur mit meinem Gefühl für Lissabon zu vergleichen und alles, was ich in fühle, wäre okay, meint sie, den Kopf auf meiner Brust, in einem Hotel am Nachmittag, den Blick starr im Raum. Andere Städte hätten mich für zwei Tage in Bestform, aber Lissabon in einer Form, die ich als das Gegenteil empfinde. Nur manchmal ist mir Lissabon doch egal und wir finden andere Städte schön, nicht so schön, aber zumindest für eine gewisse Zeit. Wie ich das auf die Liebe beziehen soll, kann ich nicht sagen. Du wirst einen Weg finden, sagt sie, du musst es sagen können, dann kann es auch sein. Oder du hörst auf, Frauen mit Städten zu vergleichen. Nur, weil man nicht immer und überall leidenschaftlich sein kann, heißt es nicht, dass man ohne Leidenschaft ist. Man denkt danach immer, es ist weg, aber es kommt immer wieder, wie Zeit zum schreiben oder gute Zeiten nach Schlechten. Das Denken und die Angst gehören einfach dazu. Sie hätte gelernt, dass man sich schlecht fühlen kann und plötzlich gut und umgedreht und dass es so eigentlich egal ist, wie man sich fühlt, wenn alles, was der Fall ist, die Suche ist, und die ganze endlose Suche dem gilt, wovon alles, nur die Übersetzung ist, heißt es immer lieben und nie ganz. Sie sehe das, wie man einen Sonnenuntergang sieht, der das Licht mit letzter Kraft gegen die Wolken knallt und sie zum Brennen bringt. Immer und immer wieder neu und in den Straßen der Stadt schon Nacht. Ein neuer Körper, ein anderer Duft, Lippen, die sich verziehen, wie man es noch nicht gesehen hat, das ist wundervoll, aber nichts gegen das vertraute Stöhnen eines Menschen, der weiß, was wir wissen. Du musst lernen, dass alles in deiner Vorstellung besser oder schlechter ist, als hier, in einem Hotel am Nachmittag, in einem Bett der Belle Époque. Jedenfalls sehen die Wände des Hotels so aus. Sie formen unsere Lippen aus misstrauischen Gedanken. Klingen wie Séparées und Türen in Wänden, von denen wir nichts wussten. Sie führen ins Bewusstsein unseres Unterbewusstseins, in aufregend, geheime Räume, in denen Treue und Untreue und was das alles soll diese bürgerliche Schwere verliert. Das eine kann das andere sein und noch viel schlimmer. Ihr Parfüm riecht wie der kalte Morgen eines anderen Landes. Sie steht gut ausgezogen am Fenster. Zierlich, wie eine Amazone mit einem Glas Hand. Braun von der Sonne und sorglos in ihrer […]

TERTULIA

TERTULIA

An einem feuchtkalten Januartag im Juni, es war zum Zerreißen kalt, tritt nach durchzechter Nacht, frühmorgens, eine Gruppe Männer in das Lokal, und verlangt nach Kaffee. Sie sehen fertig aus und stinken, riechen das aber nicht. Ihre Anzüge sind geknittert. Der Rest ist von Leidenschaften verzehrt. Von einem Leben, davon, dass sie für all die Momente kämpfen, die in Schönheit und Wahrheit alles überstrahlen und davon, dass sie davon keinem erzählen können, außer denen, die es mit ihnen erleben. Leidenschaft ist vielleicht das schönste Deutsche Wort, das es gibt, auch wenn es nicht so klingt, aber wenn alles in ihnen klar wäre, wären sie dann um diese Zeit ins Lokal kommen? Würden sie ihre Frauen lieben und ihnen alles geben, das Glück, genauso wie das Unglück, das dafür nötig ist. Diese Männer stehen in Verbindung mit ihrem Innersten, ihren Gefühlen und Gedanken und sie kämpfen damit. Sie können nicht anders. Sie müssen es tun und damit ist ihnen genüge getan. Weil sie es tun mussten. Bis hierhin ist der Anfang schon mal schön und gut und geklaut, so schön und gut, dass ich ihn nicht einfach so ungeklaut stehen lassen konnte. Wer auch immer ihn geschrieben hat, hat ihn einfach so stehen lassen und nichts daraus gemacht. Vielleicht hat er ihn aber auch gar nicht selbst geschrieben, sondern auch selbst geklaut und dann stehen lassen. Jetzt gehört er mir, ist mein Text. Vielleicht ist es schon immer meiner gewesen und ich habe nur vergessen, dass ich ihn geschrieben habe. Jedenfalls mache ich was draus, wobei der Anfang so gut ist, dass danach eigentlich gar nichts mehr kommen braucht. Die nächtliche Vergänglichkeit führt sie in eine Bar, dorthin, wo die kleinen Gassen auf großen Plätzen enden. Die Häuser fallen übereinander her. Verträumt blickt die Straße zum Fluss. Portugal hat die Weltkugel auf der Fahne und Melancholie in der Brust. Träume und Trauer. Vor allem morgens, wenn die Zeit stillsteht. Schon mal aufgefallen? Die älteste Nation Europas leidet am Herzweh einer mysteriösen Multiplikation von Gefühlen. Sie leidet nicht am Leid, sie genießt es, erfreut sich daran. Schweigt, steht an Theken und wandert mit den Blicken in die Ferne zur Theke und wieder zurück. Denkt, das blauste Meerwasser ist immer noch uns und wir haben China missioniert, Lissabon erbaut und gehalten, Priester nach Tibet geschickt, das Christentum bis nach Japan geschifft, Märtyrer geschaffen, die Europameisterschaft gewonnen, starke Frauen gezeugt, Brasilien regiert, die ganze Südhalbkugel portugiesisch sprechen lassen, mit Zucker gehandelt, Gewürzen, Menschenleben und Gold. Kaffee kostet hier immer noch 60 Cent und man ist da stolz drauf, wie auf den Largo do Carmo, der jetzt still und friedlich im Zentrum liegt, wie eine Dorf. Jacarandablüten fallen heute noch wie Bomben auf den Platz und verzaubern die Umgebung. Der süßen Seite der Wehmut steht das bittere Erkennen der Realität gegenüber. Ruinen. Die Dinge sind nicht mehr so wie sie sind, man kann sie nicht ändern und hat deshalb Poesie draus gemacht. Dichtet, bis alles verloren ist, aber so lang wird die Gruppe Männer nicht bleiben. Sie sind gekommen, um zu reden, miteinander, von sich, einer von ihnen bin ich […]