ÜBER DIE DÖRFER
Mein Freund Filippo, ein Parmesanbauer, den alle im Dorf nur Pippo nennen, hat ein kerngesundes Milchgesicht und blonde Haare. Wir hatten uns ein Jahr nicht gesehen, aber das schien unverändert. Ich kam mit dem Nachmittagszug aus Mailand nach Fidenza. Dieselbe Bahnstation, die gleichen Leute in der Bahnhofskneipe, genauso ein Regentag, wie am Tag meiner Abreise. Vielleicht waren es auch andere Leute, aber sie sahen genauso aus, wie vor einem Jahr und und so, als hätten sie mit dem Weitertrinken auf mich gewartet. Das tut gut, bei aller Vergänglichkeit, die uns umgibt. Ich wartete auf Pippo und fragte mich, was besser ist: Dinge erleben oder lieber nicht, sich auf sie zu freuen oder nun daran erinnert zu werden. Man hat diesen Ort und seine Erinnerung daran, aber nach einer Trennung konzentriert sich alles in einem schwarzen Loch. Man erinnert sich an Sachen, wie das WD40, das man damals an einer Tanke kaufte und daran, dass man es auch zusammen geschafft hatte, unglücklich zu werden. Man lenkt sich besser ab und fragt sich, wo Pippo wieder bleibt, bis man ihn in seinem schwarzen Jeep heranrasen sieht. Er fuhr, als wäre er auf Gleisen. Wir umarmten uns herzlich und er fragte gleich, ob ich an die Bar will, heute wäre sonst nichts mehr zu tun, außerdem sähe ich niedergeschlagen aus. Ich sagte, dass ich das lieber nach einem Tag Feldarbeit tun würde, als jetzt, so, in dem Aufzug. Er nickte und sagte, klar, komm erst mal an und leg diese Sachen ab. Ich stieg in den Jeep und sah beim Fahren auf die Felder, um mich abzulenken. Diesmal von der Tatsache, dass wir fast zweihundert fuhren. Das Gras stand genauso hoch wie beim letzten Mal, als ich glücklich war und verliebt. Die Liebe ist auch immer noch da, nur das Glück, das ist weg. Ich sah die Mohnblumen impressionistisch im Gras an mir vorbeiziehen und Pippo meinte, schau, mein Käse, der wird aus Blumen gemacht. Ich mochte Mohnblumen, weil sie da waren, wo sie waren und nirgendwo anders sein konnten, ohne zu vergehen. Pippo sah eigentlich überhaupt nicht italienisch aus, bis auf den kleinen Pastabauch. Seine Augen waren Meerblau und wenn wir an einem Feld vorbeifuhren, das nicht seins war, heften sie sich an das Gras der Felder, als wäre es der Hintern einer vorbeigehenden Frau. Das besondere an seinem Käse war, dass er alles, vom Gras zur Milch bis zum Käse, selber machte. In den nächsten Tagen würde ich alle Stufen durchlaufen. Er war ein interessanter Kerl, unvorhersehbar und schwer einzuordnen und manchmal ein bisschen wirr, wie es sonst Bergmenschen eigen ist. Er hatte diese Art beim Trinken immer einen Moment zu haben, in dem man dachte, dass es eigentlich gleich alles vorbei ist. Er redete dann sehr langsam und wurde ruhig und kam erst nach einer ganzen Weile wieder, so als hätte er nur lange ausgeholt. Er hatte immer Durst und nie Hunger, zumindest sagte er, dass er nie welchen hätte, bis das Essen kam und er es mit größtem Genuss verschlang. Ich kannte keinen Menschen, der so vom Essen sprechen konnte, wie er, und es war schön zu hören, wie er von vergangenen Essen sprach oder künftigen oder was er eben aß. Man könnte jetzt fragen, ob es nichts wichtigeres gäbe, aber was wäre dann überhaupt noch wichtig? Gerade, wenn man etwas wichtiges macht, einen politischen Deal oder ein romantisches Abendessen, ist es doch wichtig, welche Weine man trinkt und was man dazu isst. Das macht den Charme der Menschen doch aus: Churchill, der sich ohne seine Romeo y Julieta nie mit Stalin getroffen hätte, Kennedy, der vor dem Telefonat mit Chruschtschow einen bestimmten Bordeaux trank oder Richard Gere, der niemanden ausziehen würde, mit dem er nicht vorher im Lotus gefahren ist. So ist Auto fahren mit Pippo auch. Man lebt nicht nur für den Moment, man überlebt ihn und rast zwischen den Momenten umher, die schönen, glatten Straßen lang bis ins Ziel. Er brachte mich in mein Gästequartier und hier war man nun, allein! Die Sonne schien, bis zum Abendessen manchmal durch die Wolken in mein Zimmer, sonst passierte nichts. Es ist immer schwer, wenn man aus der Stadt aufs Land kommt. Man kriegt erst mal Panik, will irgendwas tun, muss doch irgendwas tun, wenigstens Mails schreiben, Sporttreiben, Aufräumen, einen Café to Go trinken, mit dem Stadtleben auf dem Land weitermachen, aber man kann nichts machen, außer nichts, bis einem die Seele nachkommt. Es wird dann sehr laut in einem, wenn um einen plötzlich alles still ist. Willkommen in der Emilia Romagna. Wie immer im Mai, wenn ich Freunden erzählte, dass ich nun erst mal wieder in Emilia Romagna bin, kann keiner was damit anfangen. Dabei kommt ein Großteil von dem, was wir für Italien halten, hier her. Ich habe eine Leidenschaft für Orte, die zwischen den Orten liegen und ohne Eifeltürme und Kolossen auskommen. Das Land zieht mich irgendwie an, es spricht zu mir. Die weiten Felder, das Licht, die langen, einspurigen Straßen, die die kleinen Dörfer miteinander verbinden […]