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BYND

Konstantin Arnold

DAHEIM I

DAHEIM I

Am nächsten Morgen wacht man auf und denkt, dass das ein Traum ist, dass muss doch ein Traum gewesen sein, der nun wahr wird, beweisen Briefe, Bücher, Notizen. Die ganze große Verarsche und die Zeit, die man damit verbringt, an dieser Geschichte zu arbeiten, im Mantel an einem Bahnsteig, den Hut tief ins Gesicht gezogen. Das Zugticket, wie einen Trend in der Brusttasche. Was für ein eleganter Mann, ein durch und durch verkommener Mensch, krank durch und durch, unduldsam, zwanghaft, unerträglich, argwöhnisch wie keiner, ein Idealist. Ich bin der andauernden Selbstbeobachtung und Selbstbetrachtung erlegen. Ich habe vergessen, dass es außer meiner leidvollen Welt der Liebe auch eine andere Welt, mit Liebe ohne Leid gibt. Ich habe vergessen, was es heißt, ein Mensch zu sein, der fühlt und denkt und nicht denkt, was er denken und fühlen sollte. Ich habe vergessen, dass es Menschen gibt und Städte, die etwas von uns haben und uns zu uns tragen, einer Form unserer selbst, die uns vielleicht mehr entspricht. Man weiß nie, wer man ist, wenn man in sich schaut, man weiß es nur, wenn man aus sich rausschaut und sieht, wer man nicht ist und sich geschockt an den Wert seiner eigenen Worte erinnert. Man wohnt im Grand Hotel, man war ja größenwahnsinnig geworden. Ein Hochstapler wie Felix Krull, talentierter als Mr. Ripley und doch so wie alle, die wir uns in Städten als jemand ausgeben, der wir nicht sind, bis wir es werden, weil wir einfach lange genug so getan haben als ob. Paris, Mailand, München, Mosel, St.Moritz, Eiger Nordwand und all die anderen hübschen Orten, an denen das Spiel der Verführung in subtiler, undurchsichtiger, geschickter und unsicherer Art über die Bühne geht. Das große Schauspiel Europas, aufgeführt von oberflächlichen Leuten, die alles lieben, was aufregend ist und einen Wechsel der Szenerie bedeutet. Fühlt man sich wie man ist oder ist man wie man sich fühlt? Und wo ist man eigentlich schon wieder auf seiner Grand Tour? Man wird wach wie überall, im Schädel schlägt’s, das Morgengrauen sieht innen überall gleich aus. Man kann das Gesagte kaum mehr den Leuten  von letzter Nacht und die Leute von letzter Nacht kaum noch den Orten und ihren Zeiten zuordnen. Es fiel aber alles in eine Zeit, in der es dieses Old Spice Whitewater Deo überall gab und ich fühlte, dass ich vorm Leben fliehe, wie es sich bietet. Ich konnte nicht mehr länger leugnen, dass es sich zeigte und anbot und in Form von Hautproblemen, Italienerinnen, Münchnerinnen und leeren Hotelzimmern irritierte. Da waren all diese schönen Zimmer, die sich jetzt auf einmal wie leere Gelegenheiten anfühlten. Die hatten sich noch nie so angefühlt. Sonst liegt man doch eben im Zimmer, denkt an die Italienerin oder die Münchnerin, holte sich einen runter und liebt eine andere. Romantiker 2.0. Das ists Wert gewesen! Es hat heute auch alles noch einen Wert, aber nicht dafür, dass mans passieren lässt, wie es sich bietet und einem aufdrängt. Dafür, dass man sich zerfleischt und zerfetzt? Ich konnte die Zeichen nicht länger ignorieren, schon gar nicht die Flecken. Ich konnte mich nicht mehr sehen, genauso wie das ungelebte Leben einer Liebe als Preis einer Größe, wie ich sie verstand. Ich begann das Leben wieder als viele Lieben zu sehen und sah mit Sorge ein wachsendes Interesse daran, mich als Mensch in der Welt zu begreifen, zu verstehen, wer ich bin in der Welt, als der, der ich jetzt bin, in einer Welt wie jetzt und ob dieser jemand und diese Welt wirklich nur durch sie zustande gekommen sind, wie man gern sagt. Stellt man sich alles nur so vor, so wie alle Dingen, die man denkt? […]

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