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BYND

Konstantin Arnold

BOHEME

BOHEME

Willst du dich setzen? Ich bin sowieso eine gesunde Stunde zu früh, aber liebe es zu warten. Wieso? Um mit der Gewissheit, dass gleich etwas passiert, in einem traditionellen Straßencafé zu sitzen. Einem dieser Sechsecke, die nur aus einem Tresen, einer Bedienung und einem Moment bestehen. Grüne Metalltische, die Orte erst zu richtigen Plätzen werden lassen. Mitten auf einen breiten Bürgersteig gestellt oder direkt zwischen Ampeln und Ahorn. Irgendwie arrangiert. Denn zu viel Freiheit kann irgendwann auch zu einem Gefängnis werden. Hauptsache es gibt genug Straßen, genügend Möglichkeiten, aus denen man kommen könnte. Wenn man jetzt noch ein drittes Imperial bestellt, den Stift mal beiseitelegt, könnte man meinen, Lissabon wäre das Paris der 20er im Jahr 2017. Denn alles, was Boheme wirklich braucht, sind schwarzer Kaffee, ein Thema und zwei Menschen, die sich für Künstler halten. Gewagte These, die glaubhaft wird, wenn man gerade aufgehört hat “Paris – Ein Fest durchs Leben” anzufangen. Wenn sich die späte Sonne im glatten Kopfsteinpflaster spiegelt und die Welt und ihr Laub in ein Licht taucht, das viele gerne als Filter auf ihrem Handy hätten. Wie gesagt leicht einen Sitzen und umrungen von romantisch hervorstehenden Balkonen, die ins Dachgeschoss gebaut wurden, damit man sie morgens mit Kaffee betritt und beschließt, dass das Leben gut ist. Bisher konnte ich mich vor lauter Sehnsucht nicht sattsehen. Zu schön die Vorstellung mal mit solch einem Balkon zu wohnen, den ich jetzt, dank hoher Miete, betreten darf. Fantasie mit Realität bezahle. Immer in den fünften Stock laufe und erkenne, wie verdammt heiß es im Dachgeschoss wirklich ist. Fantasy Love, denn es kommt schließlich nicht auf den Kater an, sondern wo man mit ihm aufwacht! Lebt, wo andere Urlaub machen. Richtig liegt, wo andere falsch liegen und es irgendwie schafft, trotz Berufsverkehr und Flugverspätung […]

TABU

TABU

Mir bleiben zwei Nächte im fünften Stock einer großen Wohnung am Mercado de Arroios. Es gibt noch kein warmes Wasser, aber kaltes, das zumindest nicht mehr nach Schwimmbad schmeckt. Einen schicken WLAN Router, nur noch keine Kaffeetasse, die alles gut werden lässt und auch noch kein schweres Whiskeyglas. Noch keinen Kühlschrank, aber unbenutzte Weingläser und eine Flasche russischen Wodka. Die Haustür lässt sich mit einem Autoschlüssel öffnen und von der Matratze auf dem Fußboden, kannst du ohne Glühbirnen bis nach Graca gucken. Ich habe ein großes Schneidebrettchen gekauft, obwohl ich eigentlich nur essen gehe. Ich habe nach gutem Geschirr geschaut, obwohl ich in meiner Freizeit lieber nach besseren Wörtern suche. Ich habe einen einstigen Albtraum wahr gemacht und Dinge gekauft, die mich am Boden halten. Waschmaschine, Klobürste und Esstisch. Am Boden einer großen Wohnung mit kleinem Balkon über den Dächern einer Stadt, in der du nachts nur schwer von einem noch besseren Leben träumen könntest. Morgens weckt dich ein Augenblick, für den andere vor Sonnenaufgang extra auf einen Berg klettern. Für den du nichts, als aufwachen brauchst. Und abends hupen dich die Portugiesen in den Schlaf. Fast zu schön schien diese Vorstellung, mal mit solch einem Balkon zu wohnen, den ich jetzt, dank hoher Miete, betreten darf. Fantasie mit Realität bezahle. Immer in den fünften Stock laufe und erkenne, wie verdammt heiß es im Dachgeschoss wirklich ist. Fantasy Love, denn es kommt schließlich nicht auf den Kater an, sondern wo man mit ihm aufwacht! Lebt, wo andere Urlaub machen. Wegfliegt, wo andere zuhause bleiben und richtig liegt, wo andere falsch liegen. Dank ziemlich teurer Matratze. Ich habe einfach alles vermisst. Den Verkehr, die vollgepackten U-Bahnen, den Schweiß, der dir die Stirn herunter rinnt, weil du im November endlich eine Wollmütze tragen möchtest. Die schmuck gekleideten Frauen, die zierlichen Fassaden. Den Klang der Stöckelschuhe, die in eiligem Tempo über glattpoliertes Kopfsteinpflaster geschliffen werden, das voller Laub und besetzten Bänken ist. Sogar den Fado! In Melodien gefasste Minderwertigkeitskomplexe eines stolzen Seefahrerstaates und sein vom Erdbeben gedemütigter Hochglanz. Lissabon ist ungestillte Sehnsucht, die man leben kann, ohne sie träumen zu müssen. Ein Film, in dem man unbedingt mitspielen möchte, auch wenn man als Statist nur im Hintergrund kleinen Kaffee trinkt. Aber ein Teil davon ist, von dem man keine Sekunde verpassen darf, weil es sich wie jugendliche Verschwendung anfühlt, auch nur einen Tag ohne dieses Treiben verbringen zu müssen. Nur vor die Tür, einatmen und Luft unter glühende Kohlen pusten. Diese Verve, die dich von einer Brücke immer wieder in ihre Stadt zieht, um dich mit deiner eigenen Wahrhaftigkeit bekannt zu machen. Lissabon ist eine Stunde früher, wenn in Deutschland am Morgen der Wecker zur Arbeit klingelt, wenn du zu spät bist, wenn du am Abend eigentlich ins Bett solltest, ist in dieser Stadt immer noch Zeit. Zeit, um vom Flughafen aus noch das Examen zu schaffen. Ich musste dich verlassen! Für einige Tage, die für eine ganze Ewigkeit sprechen können. Für Städte, die sich gegen dich […]

 

ALT GENUG

Auf meinem Schreibtisch steht eine angefangene Tasse Kaffee und eine leere Flasche Rotwein. Morgen und Abend. Meine Kerze ist durchgebrannt, mein Auto offengeblieben und der Wohnungsschlüssel steckt von außen noch in der Haustür. Ich habe vergessen, wie Samstagabend war, vergessen, was ich vergessen habe, Wasser zum Überkochen gebracht und die teuren Tomaten nach dem Bezahlen wahrscheinlich auf dem Kassenband gelassen. Und ich habe keine Ahnung, wie mein Portemonnaie dabei in meiner Hosentasche geblieben ist. Wir reden hier nicht von durchgezechten Nächten (nicht nur), sondern voller Pulle zwischen pflichtbewussten Lastern und lässigen Pflichten. Von allem nur das Beste. Morgens und abends. Zwischen dem Drang eines jeden Freitags und dem Wunsch guter Wellen am darauffolgenden Samstag. Surfen wäscht dich von deinen Sünden frei, spült dir die Marlboros aus der Lunge, lässt dich frisch und erholt aussehen, damit du noch einmal von vorne beginnen kannst. Bis hierher wusste ich nie, was morgen ist, konnte mich aber zumindest immer an gestern erinnern. Unsicherheit ist Teil meines Lebens, das sich die Dinge fügen, irgendwie auch. Dieses Urvertrauen ist unbezahlbar, teurer als jeder Fauxpas, wertvoller als jede Scherbe eines zu schnellen Lebens. Nur keine Angst, mein Opel fährt nicht schneller, als ich denken kann. Gerade mal 80! Aber das reicht zum Riskieren, zum draufgängerischen aufs Spielsetzen, zumindest, wenn jemand zuguckt, den ich gerne einmal küssen möchte. Immerhin besteht die Kiste aus Sekundenkleber und darf deswegen erst ab Mitternacht in den historischen Stadtkern. Dann gab es keinen Parkplatz und ich musste einfach direkt vor dem Verteidigungsministerium halten. Zu verlockend. Zu verboten. Glorreich gescheitert und Mutti eben doch wieder um Geld fragen. Zumindest, wenn niemand zuguckt, den ich gerne einmal küssen möchte. Aber keine Panik, auf der Bußgeldstelle sitzt selten jemand mit roten Fingernägeln, und seit es Instagram gibt, ist die Wahrscheinlichkeit gering, heute noch jemanden zu treffen, der wirklich Lederjacke ist. Hauptsache nicht noch ein Parkticket fürs Parkticket, weil Bezahlen in Portugal länger dauert, als jedes Bußgeld schmerzen könnte. Nummer 89 und wir sind erst bei 69. Freitagabend im Amt! Der Mann zu meiner Linken hört Astor Piazzolla auf einem benutzten Discman und die Frau zu […]

GRANTLER

Endlich ein neues Notizbuch begonnen. Feierlich mit schwarzem Tee und ohne Zucker. Ohne Anrede, weil Notizbücher natürlich nicht persönlich angesprochen werden wollen. Ein neues Kapitel, das mit Bauarbeitern und Bifana in einer Mittagspause beginnt. Irgendwo im Nirgendwo. Im waldbrandgefährdeten Nirwana. An einem Ort, der wahrscheinlich noch nie rote Flipflops gesehen hat. An dem man keine Liebesschnulzen und Ritterfilme guckt oder es zumindest nicht zugibt. An dem man keine Flüge nach Paris bucht, um im Dezember mal Mantel zu tragen und auch keinen silbernen Opel Corsa kauft, der 1985 gebaut wurde. Ich für meinen Teil hatte keinen Grund, das nicht zu tun, weil sich Uhren mittlerweile von alleine umstellen und man zu weit fahren muss, um endlich wieder Geld zu wechseln. Weil man Wiener Würstchen ohne Probleme in Frankfurt und Frankfurter nur mit einem Bier in Wien runter bekommt. Reisen ist eben auch nicht mehr das, was es niemals war. “- Heute also rein gar nichts erlebt. Nichts Neues. Irgendwie auch schön”. Zuhause auf Straßen, über die ich schon gestern geschrieben habe. Auf die endlich aber einmal etwas Regen fällt. Zu spät in Bars, aus denen wir schon oft getorkelt sind, einander angeschaut und dann nach Feuer gefragt haben. Nur, dass wir uns diesmal sogar wiedersehen. Wie im Liebesfilm. Kosmische Fügung oder Dank der Zigaretten. Rauchen schadet deiner Gesundheit und macht dein gesellschaftliches Leben zur blühenden Blumenwiese. Ob als Dessert, Pause oder rettender Anker, wenn dir deine Beschäftigungen ausgehen. Die Frauen, die wir getroffen, die Gespräche, die wir geführt und die Chefs, die wir mit Du ansprechen, waren jeden Sargnagel wert. Nur nicht zur Guillotine von Routine werden lassen! Kann man jeden Zug eigentlich nicht, oder gerade wegen dieses schlechten Gewissens erst wirklich genießen? Will man im Leben mögen oder nur gemocht werden? Amboss oder Hammer sein? Immer nur die gleiche Haarfarbe küssen? Ein und dasselbe! In Lissabon wohnen, bis der Arzt kommt! Weil Morgen doch so unsicher ist und Gestern eine ganze Menge Ehrfurcht erfordert. So wie verfallene Häuser von Cascais bis Parede. Sommerarchitektur, die unter die Haut geht, wenn es ab November die portugiesische Sonne nicht mehr schafft. Bewohnt von schlecht gelaunten Töchtern mit reichem Erbe, bezahlten Brüsten und vollgetankten Mini Coopern. So traurig, wie Wohlergehen eben sein kann und der personifizierte Wunsch das Aschenputtel unter […]

MEINEID

Ich muss hier raus! Weil sich gerade eine Gruppe kaufkräftiger Chinesen mitten in meinem Zimmer über neue Wandfarbe unterhalten hat, während ich noch nicht einmal wusste, welches Boxershort ich heute überhaupt tragen möchte. Ein ganzes Apartment schneller gekauft, als du Gentrifizierung sagen kannst. Guten Morgen. Von einem Viertel ins Nächste. Doch draußen ist immerhin Frühherbst! Ein langer Moment, in dem du den Sommer zu schätzen weißt, weil dir der Herbst zeigt, wie es ohne ihn sein wird. Klare Luft, verwelkte Blätter, du weißt, selbst wie Herbst aussieht. 18 Grad, die fast bereit sind für Handschuhe, weil man sich im Leben leider an alles gewöhnt. Die sonnigste Sonne, die gesündeste Gesundheit, die auffälligste Freundin. An eine gut gelaunte Vielfalt verschiedenster Nationalitäten, die hier in kultureller Eintracht leben und sich wundern, warum dass der Rest Europas nicht kann. Lissabon ist ein (von-überall) Herkunftseldorado, verteilt auf wunderschöne Plätze. Ob verliebt, verlobt oder verlassen. Das ist eine Devise! Lieber obdachlos hier, als mit vier Wänden und ohne Ausblick woanders. Davon singt schon der Fado! In Melodien gefasste Minderwertigkeitskomplexe eines stolzen Seefahrerstaates und sein gedemütigter Hochglanz. Man muss sich schon nah sein, aber stets dem Nächsten am nächsten. Ja, wir klagen auf hohem Niveau und Europa ist ein tolles Pflaster. So voller Prada, Penner und Espresso. Zumindest fehlt es mir immer, wenn ich zu weit weg bin, aber wie man Zäune baut und sich dabei weltmännisch fühlt, muss mir mal jemand erklären. Genauso wie gut geplante Improvisation und warum Italienrinnen immer ein abgepacktes Stück Parmesan im Handgepäck tragen! Ein ganzes Land genau mein Typ! Manchmal sieht man hier den Wald vor lauter schönen Frauen nicht und manchmal nimmt mir eine von ihnen rigoros den Wind aus der hart arbeitenden Performance. Denn allein die Pflege meines Zimmerfarns ist schon Aufwand genug und das Ding wohl das teuerste, was ich je besessen habe, bedenke man seinen eigentlichen Nutzen. Man kann ihn anschauen, hin […]

VASALL

Es hat genau 38 Minuten gedauert, bis ich mein neues Leben infrage gestellt habe. Basiswissen Finanzierung, freiwillig, noch bis 22 Uhr, für ganz Dumme und Schlaue, die sich unbedingt profilieren möchten. Im Reich der Blinden ist der Einäugige König und ich habe beide Augen offen und trotzdem nichts verstanden. Weil dem portugiesischen Dozenten manchmal die englischen Worte fehlen und schon wieder ein Passagierflugzeug über unsere Köpfe fegt, das mich mit ohrenbetäubendem Lärm alle 15 Minuten an die Freiheit mein altes Leben erinnert. Ich könnte jetzt in irgendeiner Redaktion sitzen, um die Welt fliegen, in Schanghai neun Euro für Filterkaffee bezahlen und irgendwann erkennen, dass es keinen Spielplatz ohne Zäune gibt. Keinen Job auf der Welt, der ohne Schreibtisch in völliger Muße funktioniert. Dass in unserer wunschlosen Vorstellung immer alles schöner ist. Noch viel schöner, am allerschönsten. Selbst die Realität. Aber von hier, aus der letzten Reihe, umgeben von 21 jährigen Masterstudenten und cremegelben Wänden thront diese Vorstellung in einem funkelnden Luftschloss meiner Fantasie. Es ist nicht leicht in diesem Seminarraum zu sitzen, wenn man schon Apfelmus vom Baum der Erkenntnis machen konnte und ausgerechnet heute, am ersten Tag, noch ein Hammerhonorar auf das Bankkonto seiner journalistischen Vergangenheit überwiesen bekam. Was zur Hölle tue ich hier? Lässt sich das noch mit Bauchgefühl oder strebsamen Portugiesinnen begründen? Mit horrenden Studiengebühren bezweifeln, oder mit fast tiefgefrorenen Käsecroissants aus der Kantine gar als absolute Schnapsidee verurteilen? Ruhig bleiben, ist ja erst Tag eins von 363 und ich habe immer noch nicht entscheiden, wer ich in meiner akademischen Peergroup überhaupt sein möchte. Der alles unterhaltende Mittelpunkt oder das sprachlose Geheimnis der letzten Reihe, das nur kommt, um wieder gehen zu dürfen und stets Besseres zu tun hat? Eigentlich will ich nichts sagen und trotzdem irgendwie gefragt werden. Ja, ich habe auch mal in Australien studiert und ja, ich komme schon länger nach Lissabon. Im portugiesischen Fernsehen war ich auch mal und am zweiten Tag schon nicht mehr in der Uni. Dafür glücklich surfend auf der anderen Seite des Flusses, der Lissabon davor bewahrt, irgendetwas mit dieser Sportart zu tun zu haben. Entschuldige den Ausflug, aber […]

AMOURÖS

Liebesgrüße aus einem Leben im Urlaubsmodus. Meinem Farn geht es prächtig und mir übrigens auch. Wolkenlos und vollgegessen. Mal verkatert, mal ausgesurft, lässt sich die Leichtigkeit eines Freitagvormittags hier von Montag bis Sonntag genießen. Am Stra­nd zwischen Ärschen, von denen einer braungebrannter ist, als der nächste. Einer beschäftigter, als der andere, weil es Knochenarbeit gleichkommt, von morgens bis abends so unantastbar wie möglich zu bleiben. Morgens bin ich in Praia Grande fast am Espresso ertrunken und abends habe ich auf einer Charityparty trockenen Rotwein mit dem österreichischen Botschafter gekübelt. Er im eleganten Leinenhemd und ich in abgeschnittenen Jeanshosen. Umzingelt von weiß gedeckten Tischen auf englischem Rasen, die durch dezente Gitarrenmusik bis zur Kulisse eines südeuropäischen Liebesfilms aufsteigen. Vorspeisen, Hauptgänge und für jede Lebenslage das richtige Besteck. Portugiesisches Highlife möchte ich meinen, das all die Dinge richtig macht, die andere wohl falsch machen. Einfach grenzenlos erlaubt, sich an einem Montagabend die Kante zu geben, ohne dafür Dienstagmorgen gerade (auf) zu stehen. Immer ruhig zu schlafen, weil teure Villen nicht in Autobahnnähe gebaut werden und die Milch im Kühlschrank einfach nie ausgeht. Weil Umtriebigkeit irgendwann gezwungener Maßen zu einem gemütlichen Boxspringbett führen muss und die Menschen auf Lissabons Kopfsteinpflaster natürlich selbst für ihre Umstände verantwortlich sind. Schon mal zum Platzen vollgefressen an einem Obdachlosen vorbeigegangen? Nicht an einem der fordert oder Haschisch verkauft, sondern dich bettelnd keines Blickes würdigt. Nicht aus angetrunkener Überheblichkeit, sondern weil ihm die Würde fehlt, um aufrichtig nach vorne zu gucken. Demut ist kraftvoll und eines der wichtigsten Bestandteile eines soliden Charakterbaukastens, auch wenn er das Fischbrötchen am Ende gar nicht wollte! Wann sind genug zu viel und die Gründe zum Entsagen zu […]

SESSHAFT

Ich bin so oft schon durch diese Gassen gelaufen. Verloren gegangen über Kopfsteinpflaster, das durch die Jahrzehnte von Sandalen und Turnschuhen bis aufs Zahnfleisch poliert wurde. In festen Schuhen hält es ja kein Tourist aus, weil Urlaub immer irgendwas mit Flipflops zu tun haben muss, obwohl man sich nach acht getrost einen Mantel über die sonnenverbannten Schultern werfen kann. Von oben, über der Stadt, dort wo Tinder-Dates zu richtigen Beziehungen reifen, ist alle vier Minuten ein neues Flugzeug voller Erwartungen im Anflug. Von hier unten ein Orgasmus der Reiseromantik, ein Fernwehporno, trifft ein Kondensstreifen auf den nächsten. Wo fliegt der wohl hin, wo kommt der wohl her? Ein richtiges Vorstellungsidyll, das viel zu weit weg ist, um die Wahrheit zu sagen. Denn eigentlich ist im verspäteten Flieger aus Boston langsam die Luft leer. Sitzen kann nach zehn Stunden auch kein Schwein mehr und der Anschlussflug ist schon längst wieder im portugiesischen Nachthimmel verschwunden. Endlich gelandet, kommt die Rolltreppe erst, nachdem sich jeder Passagier voller Verlustängste an sein Handgepäck klammert und so den Piloten provoziert, endlich diese scheiß Tür aufzumachen. Stehend lässt sich die Zeit natürlich am leichtesten vorspulen, auch wenn das Aufgabegepäck versehentlicherweise doch in Boston vergessen wurde. Ein großes Airline-Entschuldigung und eine Packung Haribo! Wer die Dinge lieber lebt, als sie zu träumen, muss das mit der eigenen Fantasie bezahlen. Die Hürden des Alltags an einen Ort schleppen, der sonst eigentlich nur Urlaub bedeutet. Klopapier kaufen, Zahnarzt besuchen, die ganze Wahrheit portugiesischer Hinterhofromantik ertragen. Mit Menschen und ihren Wäscheleinen hinter glänzenden Fassaden. Bettlacken und Schlüpfer hängen wie Blätter über Essensresten und aufgerauchten Camel Lights. Mittlerweile grüße ich den dicken Chinesen gegenüber immer mit einem vorsichtigen Kopfnicken, das man auch als Nichtnicken interpretieren könnte. Morgens hustet sich ein alter Portugiese für eine Viertelstunde von seinen Camel Lights frei und abends hängt ein durchtrainierter Angolaner seine verschwitzten Handtücher zum Trocknen […]

GUSTO

Ich habe für zwei Wochen keinen Weg auf mich genommen, den ich nicht bequem mit dem Skateboard hätte erledigen können. Ich habe Notizen ausgehalten, bis sie zu richtigen Geschichten gereift sind und meinen Bademantel einfach bis zum Mittag anbehalten. Hobby: Drei Bücher zum Nahen Osten in vier Tagen lesen und mit Hund im Wald spazieren. Alles überdurchschnittlich gut gebräunt. Ein paar Bilder von mir und dem Hund aus dem Wald gibt es auch, nur dann kam Kopenhagen. Ich wollte diese Geschichte eigentlich “Dilettant” nennen, nur dann kam Kopenhagen. Bis dahin hatte ich mir eingebildet, dass nichts so spannend ist, wie Urlaub im Nirgendwo. Bewusst Leben mit Müsli zum Frühstück und keinem Schnitzel mehr nach den Tagesthemen. Nur dann kam Kopenhagen. Bewusst Leben! Sich also permanent bewusst sein, dass alles eigentlich nur eine Show ist, die Erde eine Kugel und dann ab in die Klapse. Oder eben nach Kopenhagen. Fakt ist, dass es Luxus ist, wenn mir jemand auch nur einen Euro dafür zahlt, dass ich dort mal wieder die Zeit meines Lebens hatte. Gut, der Abschied. Immer wieder der gleiche Blues: wieder verkatert, wieder ein bisschen verliebt, wieder zu spät für den frühen Flug. Mir fehlen die Stunden, die wir nicht zusammen verbracht haben. Auch, wenn es immer mehr sein könnten und immer weniger, wenn es dann doch zu viele waren! So wie mit dem Geld, der Zeit oder Tequila. War es deswegen so schwer einen Artikel über diesen Wahnsinn zu schreiben, ohne sich mit zu viel Seriosität vor Skateboarding oder zu viel Skateboarding vor der Seriosität lächerlich zu machen? Fakt ist, gegen die Kopenhagen Open wirkt das Streetleague-Ereignis vor zwei Wochen, wie ein überteuerter Clubbesuch, in dem beim Tanzen plötzlich das Licht angeht und man seine müden Augen nicht mehr im Disconebel verstecken kann. Es ist grell, es ist warm, es ist noch viel greller und leider die Wahrheit. Was für ein Stilmittel! Jedenfalls Franky Villani, einer von zehntausend Skateboardprofis. Muss man nicht kennen, wenn man im Mittelfeld groß geworden ist, kannte ich bisher auch nicht, aber dann..kam Kopenhagen. Dieser Publikumswonneproppen steht, wie kein anderer für die Fleischwerdung des Skateboarding und den alten Schulfreund von damals, mit dem man nachmittags immer Cornflakes gegessen und King of Queens geschaut hat. Mein persönliches Highlight und was für schöne Erinnerungen! Damals, als das viele Reisen noch eine leidenschaftliche Utopie war, eine nicht enden wollende Begierde, eine ungestillte Sehnsucht oder einfach viel zu teuer. Oder damals, als sich die Stimme der Strandpromenadenmusikerin in Tel Aviv eingebrannt hat, wie ein unvergesslicher Sonnenbrand. Oder damals, als mir meine Oma sagte, dass ich so schön volles Haar habe und seither keine Mützen mehr getragen […]

TRUBEL

Frankfurt, wie immer. Hätte ich eine Frisur, würde die wahrscheinlich sitzen. Paris, Charles de Gaulle, vom Bus direkt in den Transit. Drinnen heißer als draußen, aber kein Grund, weshalb die Frisur hier nicht sitzen sollte. Keine Klimaanlage zum Ausfallen, kein laues Lüftchen. Nur viel zu wenig Schinken für ein belegtes Brötchen dieser Preisklasse. Selbstverständlich reklamiert. Wie es sich für einen richtigen Terminal Zwei eben gehört. Und in Biarritz? Wind, Regen, die Frisur scheißegal. Außer für einen braun gebrannten Herren im roten Cabriolet, der gerade noch versucht seine gekämmte Ordnung durch den Fahrtwind bis auf den Parkplatz zu retten. Grünes Poloshirt, weiße Haare, gelbe Gauloises. Ein richtiger Regenbogen. Woher ich das weiß? Weil ich ihn gerade nach einer Zigarette gefragt habe. Ich warte auf ein Taxi und er auf einen Golfkumpel aus Genf. Er sieht aus, wie jemand, der mit Urlaub mehr Geld verdient, als andere in Überstunden und redet mit der Leichtigkeit eines kiloschweren Bankkontos über die kleinen Dinge des Lebens. Haus am Luganersee, Segeln mit irgendeiner Schauspielerin, die ich seiner Meinung nach kennen müsste. Gal Gadot? Nein! Dafür kenne ich den Luganersee! Aus den Lebensgeschichten meiner fast 80-jährigen Lektorin, bei der ich mich erst letzte Woche mit einer Packung Pralinen und einer Flasche schlechtem Rotwein blicken ließ, um mal ohne Tastatur Danke zu sagen. Dass die Flasche danach leer war, obwohl des draußen noch viel zu hell war, ist ein anderes Thema. Wieso er sich nicht mit seinen kurzschwänzigen Kumpels in Monaco um die Wette misst, will ich wissen -hier am Atlantik fällt man doch beim Bezahlen schon mit Kreditkarte auf? Ich liebe Biarritz und jemand in Biarritz liebt mich. Kein Wunder! Ich liebe Biarritz auch. An einem Freitagabend trifft man hier die schönsten Frauen der Welt. Erstens, weil ich in Kolumbien oder Venezuela noch nicht war und sie in Norwegen wahrscheinlich zu viele Mützen tragen. Hier ist es heute viel zu heiß für lange Hosen, aber feste Schuhe werden in unbekümmerter Küstennähe zu einem Statement. Die Luft steht zwischen rauchenden Touristen und markanten Augenbrauen in roten Sommerkleidern, die mich nur bedingt auf die Unterhaltung konzentrieren lassen, die wir gerade führen. Jaja, ständige Veränderung kann irgendwann auch zur Gewohnheit werden und ja, es ist voll hier. Auf die Einbahnstraßen hat man Esstische gestellt. Rotweinatmosphäre, die von Antiterrorarchitektur und tonnenschweren Steinquadern beschützt wird. Große Fische vor kleinen Gläsern. Viele von hier, die meisten von woanders. Alle Hauptsache draußen, denn drinnen wird Bier bestellen zur Sauna. Überall Gemenge. Französisches Gelächter in baskischen Straßen voller Tradition und jungem Putz. Eine frivole Ode, aber ich schreibe ja keine Romane. Aber wenigstens noch all die parkenden Motorräder erwähnen (verdammt, ich brauche endlich ein Motorrad). Und vielleicht noch all die Händchen haltenden Traumfrauen mit knallroten Lippen (verdammt, ich brauche endlich eine Traumfrau ohne Händchen oder Träume ohne Lippen). Momente voller Ambiente, die nur darauf warten, gelebt zu werden. Ob unbedingt bis nach Mitternacht kann ich bei dieser Hitze nicht genau sagen. Scheiße ist das heiß! Und der Typ neben mir trägt sogar Levis, Stiefel und Schalenhelm ohne zu schwitzen. Cool und gelassen. Bewundernswert bis auf das Wohlstandspläuzchen. Dann lieber mit gutem Stoffwechsel unter verschwitztem Blickkontakt. Wie gerne würde ich morgen früh in einer Jugendstilvilla mit Balkon und verwildertem Garten aufwachen, der innerhalb seiner Mauern wuchern kann, wie er will. Schon vor neun Zigaretten rauchen und schwarzen Kaffee trinken, weil knallrote Lippen flüstern, man würde ewig leben. Nimmt man […]