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BYND

Konstantin Arnold

WAHNSINN

Warum mein Reisepass noch so neu ist und ob ich mein weißes Hemd selbst gebügelt hätte, möchte die Grenzbeamtin am Terminal 1C in Frankfurt gerne wissen? Wer meinen Koffer gepackt hat, und wieso unser Fotograf unbedingt im Wasser fotografieren möchte auch. Wer ihm denn den Zweitnamen “Amon” gegeben hätte und wieso wir zum Surfen überhaupt nach Israel fliegen? Wo genau wir uns aufhalten werden und welche Erwartungen wir an diese Reise hegen? Weshalb Leon Glatzer dafür gerade aus Lissabon anreist und wir uns in unseren Antworten nicht besser abgesprochen hätten, kann ich drei Stunden vor Abflug auch noch nicht genau sagen. Dafür aber, dass Israel am Check-in beginnt. Dort, wo deine Urlaubsstimmung unter Aufsicht von Maschinengewehren gewogen wird und sich die Menschen in weißen Räumen noch für dich und die Herkunft deiner intimsten Pflegeprodukte interessieren. Wer dachte alle Abgründe internationaler Flugsicherheitsfürsorge bereits erlebt zu haben, sollte unbedingt noch “EL AL” kennenlernen.Bar Refaeli, heiliges Land und Jahrtausende alte Konflikte. Mehr Fragen als Antworten und Religion als unüberwindbarer Schatten extremer Gefühle. Was man eben so weiß und natürlich habe ich mein weißes Hemd selbst gebügelt. Aber Israel ist für uns mehr als nur vorgefertigte Antworten auf hermetisch abgeriegelten Kontrollzwang. Mehr als Stereotypen und viel mehr als nur reine Surfdestination. Ein Ziel, das mehr als nur Meer fordert und sich durch eine Sportart Zugang zu Räumen verschafft, die wir unbedingt betreten möchten. Ob leichtfüßig in weltoffenem Wahnsinn oder tonnenschwer unter religiösem Dogma, erfährt Kontrast zwischen Tel Aviv und Jerusalem (besser noch Hebron) ganz neue Dimensionen, die weniger als eine Stunde voneinander entfernt liegen, wenn der Verkehr gerade nicht stockt. Wenn Israel bereits am Check-in beginnt, hört es in Tel Aviv direkt wieder auf. Weltoffen bis in jeden einzelnen Backstein und ein internationaler Schmelztiegel, der nur das Beste aller Mentalitäten in sich vereint. Die Schönheit Brasiliens, den Stil der Franzosen, die Ausgelassenheit Australiens, die Offenheit der Italiener und sogar der Tiefgang der Deutschen vermengen sich zu einem Szenario, das etwas in uns auslöst. Dass jeden Barbesuch im “Rotschild 12” zu einer bewusstseinserweiternden Lehrstunde macht, in der jede Barbesucherin mindestens zwei Jahre langen Militärdienst geleistet hat. In der du jedes Gespräch führst, als wäre es dein letztes, in der du den nächsten Gin Tonic bestellst, als wäre es dein erster und alles zusammen in Freiheit genießt, als gäbe es in der Tat keinen Morgen mehr. Keine sittliche Gesinnung, keine befohlene Moral, außer der deiner eigenen und der, dass man Falafel wirklich nur zur Wochenmitte und um die Mittagszeit essen sollte. Nach einer Woche in dieser Stadt willst du dein Leben ändern, deine Beziehung beenden, alles Bestehende in Frage stellen und deine Koffer von nun an nur noch hier auspacken, weil es sich wie Verschwendung anfühlt, nur eine Minute ohne dieses Pulsieren verbringen zu müssen. Tel Aviv ist ein Staat im Staat, der den Nahen Osten noch näher bringt und Grund dafür ist, dass wir, und das-permanente-Gefühl-etwas-zu-verpassen, in den vergangenen Nächten so wenig geschlafen haben. Es ist eine Überlastung an Möglichkeiten, die über die “Purim”-Feiertage ihren alljährlichen Höhepunkt findet, weil es direkt zum Start unserer Reise alle Juden dazu auffordert, verkleidet richtig viel Wein zu trinken. Eine ganze Stadt heißt uns willkommen. Sogar die Humusverkäuferin an der Ecke beteuert Morgen für Morgen, dass sie deutsche Touristen von allen am allerliebsten hat. Weil wir mit einem professionellen Surfer unterwegs sind und verdammt viele Kameras tragen oder solche Komplimente das Geschäft einfach zum Florieren bringen, ist uns egal. Wir fühlen uns aufgenommen, angekommen und verzaubert, wenn osmanische, arabische und israelische Tradition im Altstadtteil “Jaffa” aufeinandertreffen. Wenn nach acht nur noch Anzügliches durch die Vokabeln einer heiligen Sprache dringt oder sich braun brennende Badenixen an der Promenade klarstellen, warum „Tel Aviv eine einzige Blase ist, in der man nichts, absolut nichts von Mauern, Gewehren und Konflikten“ mitbekommt und „einfach nicht über Politik reden möchte“. Fakt ist, die Wellen des […]

 WAHNSINNIGER

Mittlerweile hatten wir jeden Tag Wellen, ohne das überhaupt gewollt zu haben. Sogar in Tel Aviv, zwischen den Molen. Wir sehnen uns nach Ruhe, die wir an einem Ort finden, der dem Filmset einer Bond-Verfilmung gleicht. Der Kunstschätze im Wert von über 600 Millionen Euro beherbergt und durch die vielen weißen Bademäntel wie eine Entzugsklinik wirkt, in Wahrheit und Vergangenheit aber als Sanatorium für psychisch geschädigte Soldaten diente. Dieses Hotel ist der unbestreitbar beste Ort auf der Welt, um sich verzehrt und gezeichnet den eigenen Altlasten hinzugeben.Auf dem Weg dorthin sprechen wir über Tunnel, Grenzen und den wahren Vitamingehalt von Trockenfrüchten. Shachar erzählt uns, dass sein Vater ein hoher Sicherheitsbeamter war und sie den Gazastreifen seit Jahren mit Neoprenanzügen und Surfboards versorgen möchten, doch immer wieder an der wahllosen Willkür der Hamas-Regierung scheitern. Eingesperrt am Meer? Surfen als wahre Flucht begreifen? Vorstellungen, die unser Interesse an diesem gesellschaftlichen Schockfrost noch vor dem Aussteigen keimen lassen. Aber wie wir jetzt an diesem Ort gelandet sind, an dem man originale Picassos vom Esstisch aus bewundern oder mit einem Glas Rotwein im Bademantel durch teure Kunst flanieren kann, vermag ich mir immer noch nicht zu sagen. Wir haben ohne Budget einfach ahnungslos Hotels angeschrieben und ihnen gesagt, dass wir zusammen mit Leon Glatzer kommen. Dass wir am Ende in Israels Topunterbringung landen und einen Ort kennenlernen, der so abwegig wie einmalig ist, hätte nun wirklich niemand ahnen können. Trotzdem haben wir schnell genug von wohltuendem Thermalbad ab 40 und umso entzückterem Hotelpersonal. Wir wollen mehr! Endlich Gegensätze erfahren. Blasen verlassen, uns irgendwie bedroht und demütig fühlen. Also wieder wenig Schlaf und um sechs Uhr morgens nach Jerusalem! Jerusalem ist ein wunderbarer Ort, um Atheist zu werden oder sich in unzähligen Touristenshops bis auf die Socken völlig neu einzukleiden. Ein Ausverkauf von Religion, der nicht einmal vor den Ritualen der Klagemauer haltmacht. Fotowütige Abenteuertouristen inmitten Jahrtausende alter Gassen und Gartenstühle, die vor Heiligkeit und Abnutzung strotzen. Wie wir zum Felsendom kommen, will uns auf jüdisch-orthodoxer Seite niemand sagen. Und dass man diesen Ort nur noch zu bestimmten Zeiten besuchen darf, weil sich jüdische Terroristen, als Touristen verkleidet, immer wieder in die Luft zu sprengen versuchen, erfahren wir auch erst von unserem Taxifahrer, mit dem wir gerade auf dem Weg nach Hebron sind. Erst gestern wurde am Löwentor, dem Eingang zum muslimischen Viertel der ummauerten Altstadt, ein Fundamentalist von Soldaten erschossen. „Ein Muslime, auf dem Weg zu seinem Mittagsgebet“, beteuert unser Taxifahrer. „Ein bewaffneter Terrorist“, schreiben die israelischen Zeitungen. Wir passieren Checkpoints und […]

FREIHAUS

Gestern Abend habe ich mir per Express mehr Socken bestellt, als ich überhaupt tragen kann, weil zwischen Ankunft und Abreise kaum noch ein schonender Waschgang passt. Auch nicht mit Trockner oder Geschwindigkeitsüberschreitung auf dem Weg nach Frankfurt. Frankfurt-Hahn, weil falsch gebuchte Flüge zu einem Missverständnis gehören, wie gut gemeintes Bruschetta, zu dem du eigentlich keine Oliven wolltest. Deswegen sitze ich jetzt im dritten Mietwagen der laufenden Kalenderwoche und bin froh, dass der FFH 80’er Jahre Marathon heute noch bis nach Mitternacht geht. Eigentlich rauche ich nur, um mir alle 100 Kilometer ein kleines Highlight gönnen zu können und hoffe, dass meine Rückenschmerzen nur von den Brettern der Flughafenbestuhlung kommen, die für mich heute Nacht noch Bett bedeuten. Transitzonen kennen sowieso keine Tageszeiten und sind bis auf die Senator-Lounge eigentlich auch immer gleich hell. Morgen ist, wenn die Zeitungsverkäuferin diese Sonntagszeitung auspackt, in der es unser Israelerlebnis irgendwie zur Titelgeschichte des Reiseteils geschafft hat. Und auch, wenn in 2500 Kilometer Entfernung eine schwarze Limousine darauf wartet, mich und meine neuen Socken in ein portugiesisches Hotel zu fahren, habe ich immer noch nicht das Gefühl, dass hier irgendetwas ernst ist. Erstens ist die Definition von Limousine ziemlich weitläufig und zweitens klingen die Dinge immer schöner, als sie sich anfühlen. Außer auf Italienisch. Hinter dir ein Rollkoffer, vor dir nichts als Ungewisses. Ein Reisepass als Insignie ausgekosteten Lebens. Gestempelte Erfahrungsbescheinigung zwischen dem Hier und dem immer noch nicht da. Ja, Flugtickets verpacken das Leben in absehbare Appetithappen, die durch ihre zeitliche Begrenztheit für ordentlich Wertschätzung sorgen, aber zwei Jahre zwischen altem Kinder- und neuem Hotelzimmer sollten reichen. Und außerdem gibt es für Flüge nach Israel gar keine Stempel. Ja, ich weiß, wo man am Flughafen Frankfurt direkt neben einer Steckdose guten Kaffee trinken kann oder warum es sich lohnt in Singapur sein eigenes Gepäck verloren gehen zu lassen. Aber dafür den vierten Advent in einem Starbucks verbringen zu müssen, steht wegen liebloser Fließbandfreundlichkeit außer Frage. Wenn sich Arbeit und Freizeit nicht unterscheiden, fühlt sich Freizeit wie Arbeit und Arbeit eigentlich immer wie Freizeit an. Oder, um es noch verwirrender zu sagen: man muss nie wirklich arbeiten und man hat nie wirklich Freizeit. Jeder Tag fühlt sich wie ein Freitagvormittag an und man beginnt sich zu fragen, ob man alles auf diese Karte setzen möchte, die man gerade auf Hochgeschwindigkeit spielt. Was willst du? In Zukunft? Gut gebräunt sein! An einem Ort, an dem man nicht weiß, wann der Bus fährt. An dem dir an der nächsten Ecke die leere Brieftasche geklaut werden kann und du im Supermarkt mit der nächsten Liebe deines Lebens zufällig zur gleichen Kohlrabi greifst. Femme fatale! Gekleidet in Weltgewandtheit und etwas zu sexy für die Gemischtwarenabteilung. Apart, Expat oder was auch immer! Ich habe wieder zu träumen begonnen, von Nähe, die mit mehr Liebe gemacht ist, als Tankstellenbrötchen. Auch, wenn ich meinen Armreif gerne wiederhätte, den jetzt ein israelisches Mädchen aus Dimensionsgründen um ihren Oberarm trägt. Immerhin ist der von Mutti und das Schmuckstück von ihr nicht mal richtiges Silber. Männlich, 26, sucht. Deswegen Lissabon! Mehr (sesshaft) sein, als (unterwegs) schein. Aber auf keinen Fall in dieser Bürogemeinschaft, in der auf jeden Freiberufler sieben Zimmerpflanzen kommen und die meisten damit beschäftigt sind, möglichst beschäftigt zu sein. Trotzdem! Ein Ort, an dem man zumindest Jeans tragen muss und sich nicht ohne Weiteres selber befriedigen kann. Vielleicht ein […]

PIANO

Keine Sonne in Mailand. Dafür gut gekleidet durch schlechtes Wetter. Lebensmittelpunkt Mode. Prada, Penner und Espresso. Wunderschön. Einkaufen und sich betrinken oder endlich mal Pizza von der Alle reden. Vorab aber mit der Kreditkarte vor dem gut geputzten Spiegel üben. Für Luxus vom Hotel bis auf die Straße, auf der nur Eugenia bis unter die Haut geht. Mille Grazie. Die ganzen drei Tage, in denen man sich alles sagen kann, weil gebuchte Rückflugtickets für die nötige Leichtfertigkeit sorgen. Dich und deine gefühlvolle Fahrlässigkeit nicht ganz beim Wort nehmen, sondern ganz in Ruhe den inneren Anspruch hochleben […]

HANNA

Allein in einer fremden Bar. Zwischen Tanzfläche und Theke erfindet sich die Königsdisziplin für junge Männer, die zu viele alte Mickey Rourke Filme gesehen haben. Die gerne maximales von der eigenen Freiheit fordern. Im schwarzen Mantel ohne zu schwitzen. Unter Blickkontakt die eigene Gesellschaft genießen. Feuer zwischen Frau und Mann, die heute Nacht selbst entscheiden können, wer sie eigentlich gerne sein möchten. Geheimnisvoll und für die Entlastung gerne auch angelehnt. Hauptsache nicht tanzend. Jedenfalls noch nicht. Nur durch Gin Tonic beschäftigt, aber zu zufrieden für einsam. So viel zur Aura und der vollsten Perfektion in jedem Zug meiner Zigarette. Die Musik wirkt einladend ohne aufzufordern und dieses braunhaarige Mädchen hat gerade wieder hierher geschaut. Ihre Bewegungen sind ehrlich und unbeobachtet. Klares Gesicht, markante Augenbrauen. Vielleicht Anfang Zwanzig. Durch ihre vollen Lippen erzählt sie gerade ihrer Freundin, dass hinter ihr ein Typ steht, der sie die ganze Zeit anschaut. Lächelt, wenn sie lächelt. Lacht, wenn es zum Moment passt und wegschaut, wenn es nötig ist. Spreche ich sie an oder genießen wir beide noch etwas länger den Raum, der nur der Idee gehört und allein vom Thrill diktiert wird. Ich gehe auf die Toilette ohne zu müssen. Dieselbe Toilette, in der sie später von mir verlangen wird, dass ich sie ohne Kondom ficke. Bis hier her ist sie für mich ein Mädchen zum Frühstücken. Zum Wiedersehen und beindrucken. Vielleicht sogar zum Tanzen. Deswegen berühre ich im Vorbeigehen ihre Hand. Sie fasst zu, obwohl ich gerade von einer blondhaarigen Unterhaltung belagert werde. Gutes Timing. Ganz nett und wahrscheinlich auch schön, aber ich habe nur Augen für sie und diesen Moment, den wir gerade teilen. Dieses Spiel, was wir gerade spielen und die Geschichte, die wir damit schreiben. Ihr Name ist Hanna und jetzt beginnt sich die Erwartung unserer Fantasie mit Realität zu messen. Verliert die Fantasie, verlieren wir uns. Stimmen beide überein, bezahle ich die Drinks und überrascht die Realität weiche ich die nächsten 36 Stunden nicht mehr von ihrer Seite und werde sie bis zu meinem Abflug berühren. Bin ich betrunken oder verknallt? Oder beides? Oder warum sehe ich in Ihr auf einmal das, was sie ist und nicht das, was sie nicht ist. Sie ist intelligent und dadurch zurückhaltend, Tänzerin und wurde von Gott mit den dafür nötigen Voraussetzungen gesegnet, die sich nur mit ihrem unschuldigen Gesicht, um die Hoheit der Ausstrahlung zu messen scheinen. Eine Pfarrerstochter, die gerade ihre Hand in meiner Hose trägt ohne, dass ihre rehbraunen Augen dabei auch nur einen Finger verraten. Wir tanzen (traditionell). Wir reden (nicht nur ich). Wir schwitzen (eigentlich nur ich). Wir rauchen (viel) bis in unserem Treiben kein Platz mehr für die Gegenwart der anderen ist. Bis ich mich zum zweiten Mal in der Toilette wiederfinde auf der ich vorhin schon nicht musste. Wie gesagt, Hände überall und keine Kondome. Sie will. Ich nicht. Nur kurz! Nein! Intensiv. Weil (schöne) Kinder für immer! Das ist draußen alles nichts neues, außer ich spreche hier wirklich von einem Mädchen zum Frühstücken, das nach dem unerfüllten Ende dieses Moments nur kurz eine Freundin zu Tür bringen wollte. War sie zu heiß und ich zu vernünftig? Sie kommt nicht wieder. Na klar kommt sie wieder. Komm wieder, habe ich gesagt. Oder gedacht? Alles viel zu schnell und viel zu spät. Sogar für den Nachnamen zu cool geblieben. Verdammt nochmal wo ist sie? Ich muss dieses Mädchen finden, bevor sie zu dem wird, was ich schon immer gesucht habe. Bevor meine Erwartungen die Fantasie zur Realität erklären. Google. Schlagwort Anna, italienische Wurzeln und irgendwas mit Eventmanagement. Scheiße! Die 87. erfolgreiche Hip Hop Crew und immer noch keinen Treffer. Bayreuth irgendwas mit Red. Ja, aber wann? Und das schon seit zwei Stunden. Ihr Gesicht verblasst. Verdammt erinnere dich oder fang […]

MALENA

Schon von weitem gesehen. Mich einmal kurz umgedreht und meinen Schritt unmerklich verlangsamt, damit wir uns für einige Meter den glatt polierten Bürgersteig teilen müssen. Ohne zu schauen, habe ich zu reden begonnen. Direkt ins Thema. Ich weiß, dass sie eine russische Uschanka trägt, obwohl der portugiesische Winter auch ohne Mütze erträglich ist. Ich weiß, dass der Kellner sie eigentlich in eine andere Richtung schicken wollte und Sie weiß, dass Masche schnell zur Moral wird. Schönheit ist spürbar. Vor allem die einer portugiesischen Brasilianerin. Volle Lippen, braune Haut und trügerisch naive Augen, die dir mit ihrer erfahrenen Zügellosigkeit bis in die Eier blicken. Bis hier her hat die Zukunft der Gegenwart oft ihren Wert gegeben. Ich habe Zeit damit verbracht darauf zu warten, dass die Zeit vergeht. Jetzt will ich verweilen. In diesem heiße-Schokolade-langen Intermezzo in einem Café nach Mitternacht. Wir unterhalten uns kaum, weil uns dazu die Vokabeln fehlen. Ich kein Portugiesisch. Sie kein Englisch. Sie morgen Paris. Ich nach Mailand. Sie einen streng katholischen Vater, für den sie eigentlich nur schnell in eine Apotheke sollte. Um diese Zeit? Vater? Und wieso Apotheke? Wenigstens sind unsere Blicke unmissverständlich. Frivol und genervt vom gestischen Erklären. Denn wenn einem die Worte fehlen […]

PIRSCH

Ich für meinen Teil sitze zehn vor zwölf zu Hause und draußen knallt‘s. Das Internet ist voll mit guten Vorsätzen sich schon wieder zu betrinken, die jedoch genauso an mir vorbeigehen wie die Vorsätze, es nicht zu tun. Deswegen Treffen bei Facebook und später höchstens noch auf einen Drink zu Skype. 2016 war eine einzige Party. Schnell und im Segen gut gemeinter Horoskope. 249 Reisetage, 137 davon in Hotels und 324 im Dispo. Ich habe fast ausschließlich unter dem Protektorat der Gastronomie gefrühstückt, weil meine Küchenzeile in Köln auf buntem Teppichboden gebaut wurde und sich Kartoffeln von unterwegs schlecht schälen lassen. Heimisch habe ich mich immer gefühlt, sobald ich wusste wo’s zum Klo geht und ich mir den Gürtel erst im Flur zumachen musste. Vor allem “Zwischen den Jahren”. Zur einzig wahren Besinnlichkeit zwischen den Mahlzeiten. Obwohl ich keine Ahnung habe, was “Zwischen den Jahren” eigentlich zu bedeuten hat. Ist “Zwischen den Jahren”, wenn die Mutter festlich gekleidet nach Knoblauch, Fisherman‘s Friend und Armani duftet, meine ostpreußische Oma erzählt, dass Kühe zwischen Weihnachten und Neujahr früher keine Feiertage kannten und ich mich väterlicherseits über außerirdische Weihnachtsgeschichten unterm Tannenbaum freue? Oder ist man zwischen den Jahren auf der Pirsch, knutscht in neuen Kleidern ehemalige Klassenkameraden und verfällt in Muster, die man durch den eigenen Werdegang doch endlich abschütteln wollte? Reliquien der Vergangenheit, mit denen man auf Partys früher Dinge geklärt hat, die man besser im Fernsehen besprochen hätte. Von daher lieber wieder zurück auf die Hollywoodschaukel des Jahres, bestehend aus Momenten voller Glückseligkeit, die durch gefrorene Schornsteine zu weißer Gemütlichkeit aufsteigen. Wie ich darauf komme? Weil ich die letzten vier Tage und Nächte mit wechselnder Begleitung und einem Collie im verschneiten Thüringer Wald verbringen durfte. Voller Holz. Für Zufriedenheit und die Einsicht, meine Hände fortan nicht nur zum Frieren und Aufschreiben zu benutzen. Zumindest, wenn man mal so ehrlich zu sich selbst ist, wie zu den anderen. Darum Tischlern! Ehrliche Arbeit. Die Lehre der Kreation mit Werkzeug. Für Männer, die alles bauen können außer Websites. Zum Beispiel drei selbst gestopfte Zigaretten inklusive Konsum und dazu ein halber Liter Cola im zeitlichen Duktus einer Fünfminutenpause. Tischlern! Eine Bühne für den Bartwuchs und feierlicher Anlass fürs Flanellhemd, obwohl hier eigentlich alle Poloshirt tragen. In einem hölzerner Kreißsaal für die Männer hinter den Legenden. Wände mit Kalendern, auf denen nackte Frauen Gartengeräte halten. Keine Sägen, keine Muskeln. Nicht mal Schweißflecken. Dafür Anekdoten aus der Spielhalle. Einfach nur Arbeit, für die man drei Stunden schuftet, aber erst zehn Minuten vergangen sind. Tischlern! Ohne zu kotzen, auch wenn Bauchentscheidungen hier gerne gesehen sind, denn auf der Herrentoilette riecht es nach Lack und Pisse und auf Montage im Altenheim nach Desinfektion und Spucke. Aber „Ho miarma den Seksgand ausm Audöh!“. Scheiße, hat der Sechskant gesagt? Immerhin will ich hier einen auf Mann machen und akustische Verstümmelung zählt nicht. Wirklich alles im Lot und plötzlich ist meine filmreife Wunschvorstellung zum Überlebenskampf am Fließband geworden. Ich könnte jeden Tag in Kalifornien verbringen und mich von diesem Mädchen verkatert durch Malibu fahren lassen. Aber nur bis in den Sonnenuntergang, weil ich mich danach wahrscheinlich in einer Beziehung wieder finden würde, die ich doch gar nicht wollte. Weil ein kurzlebiger Verzicht auf Freiheit doch zuweil immer zu einer noch größeren Freiheit führen muss. Alles für ein Visum? Nein, danke. Dann lieber Unterhaltungen in ostdeutschem Dialekt, in denen man hin und wieder die falschen Artikel benutzen muss, um nicht als Klugscheißer dazustehen. Dass ich nächste Woche nach Mailand fliege, irgendwie nach Barcelona muss und gerne endlich Zeit für Tel Aviv hätte, interessiert hier keinen! Nicht mal meinen Vorarbeiter, der jede Frühschicht zur Märchenstunde macht, wenn man nur die richtigen Fragen stellt. Verpflichtet die Terrorgefahr jeden Tag zum völligen Auskosten oder feiert man in Israel immer als ob es wirklich keinen Morgen gäbe? Denn ich wohne gerade bei Mutti und Teil meines Lunchpakets sind immer hin zwei Trostzigaretten. Sieben bis 16. Guillotine von Routine. Technische Effizienzbelehrungen, die das Leben ein Hundertstel schneller […]