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BYND

Konstantin Arnold

GASTARBEITER

Willkommen zwischen den uninteressanten Zeilen des Erwachsenwerdens. In Zeiten, in denen man die Guillotine von Routine fürchtet und vor dem Einschlafen weiß, was der nächste Tag zu bringen hat. Jeder Berg hat sein Tal und ich kann meine Füße nur deswegen still halten, weil wir so lange auf einer Gebirgskette gewandert sind. Nach dem Feierabend beginnt für mich die eigentliche Arbeit. Ich muss mich mit meinem produktiven Tatendrang auseinandersetzen und versuchen, die Sternstunden nachzuholen, die ich in den letzten acht Stunden verpassen musste, weil ich Pinot Noir und Riesling in ein paar Kanister pflücken musste. Nach jedem vollen Eimer stelle ich mein Leben in Frage und versuche mir zu erklären, wie wir eigentlich hier gelandet sind. An meinem ersten Tag, habe ich heimlich so viele Trauben gegessen, dass ich den Rest meines Feierabends auf der noblen Toilette des Winzers verbringen musste. Verdammt war mir schlecht! Ob wegen der Weintrauben oder der Vorstellung, diese Art von unspektakulärer Tätigkeit für die nächsten fünf Wochen betreiben zu müssen, kann ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht sagen. An meinem zweiten Tag habe ich meinen Traubenkonsum auf ein paar Hände voll reduziert. Diesmal habe ich Chardonnay aus den Eimern gegessen und konnte nach Feierabend meinen ungesunden Tatendrang damit zügeln, dass ich all meine Klamotten in die Wäschetrommel eines Waschsalons geworfen habe, um die nächsten eineinhalb Stunden in Unterhose ein paar Gartenmagazine durchzublättern. Ich habe mich selbst überlistet und genieße fehlende Alternative. Meistens sitzen wir nach Feierabend für eine halbe Stunde auf der Stoßstange unseres Autos und wissen nicht, ob wir weinen oder lachen sollen. Ich werde meinen Master in San Sebastian machen. Ich werde diesen Moderationsjob für diese Outdoor Filmtour machen, sobald ich meine Abschlussarbeit zu den Akten gelegt habe. Ich denke mir, dass wir keine Wahl hatten. Dass zu diesem Zeitpunkt, unter diesen Bedingungen, die einzige küstennahe Alternative darin bestanden hätte, in Christchurch ein paar zerfallenen Häusern beim Aufbauen zu helfen. Jetzt sitzen wir an unserem Campingtisch inmitten einer idyllischen Ebene, um die eine bergige Postkartenkulisse geklebt wurde und kontaktieren den einundvierzigsten der sechsundachtzig ansässigen Weingüter. Wir treffen uns mit Nicky, telefonieren mit Chris und versuchen Jerome zu finden. Wir bekommen die Emailadresse von Gerry und werden von Kathi weitergeleitet, bevor wir eine Nachricht auf der Mailbox von Peter hinterlassen. Wir können Hendrik nicht finden und erfahren von Grant, dass Cromwell der küstenfernste Ort ist, den eine neuseeländische Landkarte zu verzeichnen hat. Das ist Meersalz in die Wunde, wenn man bedenkt, dass ich die letzten neun Monate nicht weiter als einen romantischen Spaziergang vom Meer entfernt, verbracht habe. Das sind also die harten Zeiten, von denen realistische Erwachsene reden, wenn man ihnen mit zu viel Lebensmut entgegentritt. Wir brauchen Arbeit, um Geld zu verdienen und nicht um unserer freizeitlichen Errungenschaften wieder schätzen zu wissen. Hier in Cromwell gibt es ein kleines Schwimmbad. Wir denken darüber nach eine Clubkarte zu kaufen, um etwas Routine in das Leben auf vier Rädern zu bringen. Es gibt eine urige Kneipe, in der man neben etwas Perspektivlosigkeit auf ein paar echauffierte Anwohner treffen kann, die wir nach eintausend Meter Kraul nur ungerne kennenlernen möchten. An der Theke sitzen ein paar dreckige Farmer, die uns mit abschätzenden, betrunkenen Blicken in ihrem Lebensmittelpunkt willkommen heißen. Hier gibt es mehr Barhocker, als es Einwohner zum Benutzen gibt und wir entscheiden zu stehen. Wir bestellen zwei kleine Bier bei der argentinischen Bedienung, die in völliger Charmeresistenz etwas Exotik in unseren Bestellprozess bringt und freuen uns, dass die Jukebox ein paar Lieder spielt, die wir mitsingen können. Das nimmt den Druck aus der Unterhaltung, zu der man in manchen Kneipen verpflichtet zu sein scheint und wir nicken kontrolliert zu died in your arms tonight. Deswegen haben sie das Pferderennen im Fernsehen lautlos laufen. Den einzigen Fernseher, den ich je besaß, hatte mir zu deutschen Zeiten meine Mutter gekauft. Jedoch nur für zeitweiligen Liebeskummer und mit der Bitte, ihn nach Besserung kassengerecht zurückzugeben. Die einzige Unterhaltung führen wir mit einem glatzköpfigen Maori, der uns ohne Worte darauf hin weißt, dass ihm Marios Tätowierungen gefallen. Weil wir uns im Moment nicht mehr leisten wollen, steigen wir kurz nach acht in unser mobiles Zuhause. Irgendwo zwischen […]

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