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BYND

Konstantin Arnold

SENHOR FERNANDO

SENHOR FERNANDO

Ich bin jetzt 32, also im besten Alter, um zu verstehen, dass man langsam stirbt, die Zeit begrenzt ist. Ich könnte mich deswegen irgendwo runter stürzen, der Gedanke daran ist ja nicht auszuhalten. Als ob nicht alles ewig ist? Weder der Körper, in dem ich lebe, noch die Frau, die ich liebe, nicht mal die Lokale, in die ich immer gerne ging. Erst letzte Woche musste Senhor Fernando schließen, der Gemüsehändler, der auch Wein dahat, Kerzen und Schinken. Er sagte, er packe das alles nicht mehr, er sei zu alt und Lissabon zu kalt und teuer in diesem Winter und er hätte schon zu viele davon hinter sich gebracht. Er wäre schon hier gewesen, als das noch eine normale Durchgangssasse gewesen wäre, bis die Italiener kamen und Stühle hinstellten und wieder gingen, und eine Zeit lang niemand mehr kam und ging, bis dann die Franzosen kamen, nur die schaffe er nicht auch noch. Er war so oft da in so vielen Zeiten, er hätte genug. Ich stand ich zwischen den Bauarbeiten in seinem leeren Laden, brauchte Wein, brauchte Schinken, brauchte Kerzen, sah Senhor Fernando so gebückt, sah die Abdrücke an der Wand, die nur die Zeit den Dingen gibt, da wo die Regale 46 Jahre standen, stand da, wo er immer gestanden hatte, wenn man zahlen wollte und sich noch ein paar Eier aufschwatzen ließ und verstand, was Erinnerungen sind. Es war die Erkenntnis, dass alles vergeht, nichts so bleibt, wie es ist, auch Lissabon nicht, nicht mal die Vergänglichkeit, der Herbst und das Weiße des Monuments. Alles, was ich über das Anschreiben und das Altwerden weiß, und die Weinpreise der Jahrhunderte, weiß ich von ihm. Ich weiß auch ein paar andere Sachen, die ich in Büchern gelesen oder mir selbst beigebracht habe, aber ich weiß sie besser von ihm. Wie oft hatte ich hier Kerzen gekauft, Wein, Schinken, immer mit ein bisschen hoffen auf Geld. Ich hatte ihm bezahlt, was seine Sachen wert waren und ein bisschen mehr, wenn ich welches hatte, aber meistens ließ ich es anschreiben. Am besten gibt sich Geld aus, das man nicht hat. So zu denken, wollte mir Senhor Fernando abgewöhnen. Gerade, sagt er, kochst du dir deine erste Hühnersuppe, kaufst deinen ersten eigenen Weihnachtsbaum und schon bist du arm oder tot, die Zeit vergeht schnell, außer der Weihnachtsschmuck kommt noch von Mutti. Manche von uns jungen Leuten, die heute alt sind, dürfen schon nie wieder Wein trinken, auch keinen Nachtisch. Andere haben Kinder bekommen, geheiratet, ein paar sind auch ganz glücklich damit; einige können schon nicht mehr richtig gehen, haben Allergien oder denken, welche zu haben, weil sie noch gehen können und lange genug leben, um zu glauben, gewisse Routine zu erkennen, Muster, Narrative, durch die sie die Welt und die Menschen nicht sehen. Finden wir uns damit ab, werden fetter, leben aber hoffentlich, bis wir ganz tot sind. Lissabon stand und steht für viel mehr, für eine Ewigkeit und nicht nur für eine, für Epochen und Episoden und einen Lebensstil; neue Fassaden sind ihm genauso eigen wie mit Armut durchsetzte. Die Stadt trägt keinen Übernamen, ist eine Legende und Begriff geblieben. Was er denn jetzt tun wird, ohne den Laden und ohne Senhor Fernando, der Gemüsehändler zu sein? Ach, die Zeit verginge so schnell, von nun an ziehe er sie in die Länge. Er würde sich auf Plätze setzen und in Wartezimmer, zu früh am Bahnhof stehen, sehr kompliziert mit dem Bus rumfahren, das Aussteigen vergessen, Vorträge in einer Sprache hören, die er nicht versteht und endlich mal […]