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BYND

Konstantin Arnold

SCHARLATAN

SCHARLATAN

Ich habe schon viele Anfänge gehabt. Sie kommen, wie sie gehen. Man will los schreiben, aber dann passiert wieder was oder man ist in Wien und nichts ist mehr wichtig, außer dass man Geld verdient, um sich das Leben und das Schreiben zu leisten und diese Creme, die man sich morgens und abends in den Arsch schmieren muss. Die Creme hat einen schmalen hundepimmelartigen Aufsatz, den man sich einführt. Und so stehe ich, morgens und abends, egal wie betrunken, egal wie verklemmt, mittellos in der Opernsuite des Bristol-Hotels und kämpfe gegen Hemmungen, Hämorriden, Zeitungen, Verleger, den Ausverkauf, der ganzen verdammten Welt. Zwei Schlafzimmer, drei Bäder, Türen, die durch Schränke gehen und viertausend Euro im Dispo wären auf meiner Seite. Wenn man so arm dran ist und sich dann noch was in den Arsch stecken muss, braucht man Menschen, die dafür bezahlt werden, dass sie nett fragen, wies einem geht. So wie Herr Baur, der Maître des Restaurants, der meint ich sei dünner geworden. Das wären die kürzeren Haare oder der Bart, Durchfall will ich nicht sagen. Egal, ich soll hier was und spare mir Mahlzeiten anderswo. Was für ein netter Mann. Die Zeitung ist morgens auch immer da. Genau wie die Sehnsucht nach meinen dunklen leidenschaftliche Portugiesen, die in aller Herren Ländern arbeiten und ihre besten Jahre opfern und dann hoffentlich noch welche haben, wenn sie heimkehren mit Geld und Erinnerung an ihre dunklen Dörfer und Landalleen. Portugiesen sind Weltentdecker, Astronauten der Vergangenheit, aber seitdem die Welt entdeckt ist, müssen sie aus anderen Gründen gehen, um die Entfernung zu spüren, zu dem, was man liebt. São Paulo, Macau, Hongkong, Südchina, Wien, Urlaub in Mosambik, wo man Frauen kennenlernt und eine, mit der man die Zeit in den Jahren danach rumkriegt. Man erkennt sie daran, dass sie selbst im Wiener Sommer noch Jacken tragen, zumindest Jacketts. Einer Paar saß im Flugzeug uriberisch neben mir. Mit dieser den Sinn gefangen nehmenden Menschlichkeit, dem Wissen, was Essen und Teilen ist, Leben mit Wein. Ihrer Milde vor der ganzen Rauheit des Atlantik. Eine maurische Ruhe ging von ihnen aus, hellenische Klasse, ein südhemisphärischer Geist. Ich wollte am Flughafen gar nicht von ihnen gehen. Überall sieht man glückliche Touristen, die im T-Shirt vor einem Essen in der schwachen Aprilsonne zwischen den Wolken sitzen. Sie kommen aus London oder Paris, aber wer Lissabon kennt, hat es schwer, irgendwo anders glücklich zu werden. Man schaue dafür nur auf die portugiesischen Kellner im Bristol, die verfolgt von Geldsorgen und Erinnerungen manchmal beim Abräumen eines Tisches verharren und ins Leere blicken, durch die blassen Fenster aufs ganze Nass und sich nach Portugal sehnen. Die Sonne ist für sie nicht nicht mehr als ein Gerücht über den Wolken. Denn irgendwann wird dieses leichte Grau über all den Dingen und Dächern in Schluchzen ausbrechen, voller Mitgefühl für sie und alle Menschen auf der Flucht, Betrogene und Boxer, die in er der ersten Runde k.o. gehen, Autoren, die seit Tagen nur auf dem Klo sind. Die Wurzeln dieses Gemüts liegen in den tiefen Katastrophen und Niederlagen, die dieses Volk aus Seefahrern und Fischern hinnehmen musste. Erdbeben auf der Höhe der Aufklärung, Voltaire gegen Leibnitz sei dank. Vier Jahre Kolonie Brasiliens, aufgrund peinlicher Brüderkämpfe. Eine Diktatur, aber heute ein verlässlicher Freund in Europa, eine Zierde für die Demokratie, wenn man sich, dem Ozean abgewandt, das Ausmaß der Korruption mal wegdenkt. Denn der Atlantik ist es, der keine Hochmut zulässt. Dafür aber einen sehr attraktiven Ernst, und einen Stolz, sich nicht würdelos zu widersetzen, wenn man mal aus höchsten Höhen in die tiefsten Tiefen fällt, als mächtigste aller Mächte. Sie sind tiefer in ihrer Freude, dauerhafter in Beziehungen, inbrünstiger im Gebet, also das Gegenteil von Italien. Selbstbewusst, trotz  einer Randständigkeit im Schatten der Mächte, die ihnen eine rettende Nebenrolle im großen Krieg zu teilten, als Europa endet, und in Portugal die Unendlichkeit beginnt. Dieses Volk ist bescheiden, es mahnt leider, zeigt weniger als andere auf andere und die Misthaufen unserer Zeit. Ihre Verbindungen haben nichts von der üblichen Überquerung von Grenzen und dem herkömmlichen Anspruch den Liebende stellen. Allein wie meine Freundin mit Niederlagen und Rückschlägen umgeht, wie sie ihre Klagen lebt und Wünsche. Ich weiß noch wie lang sie an diesem Kleid vorbeiging und schwärmte, bis ich es ihr kaufen konnte. Oder wie lang sie mit einem Telefon telefonierte, das aussah, wie aus dem Fenster geworfenes Glas. Sie hatte auch mal eine seltene Hautkrankheit, die ihr Gesicht anschwellen ließ, was sie aber nicht davon abhielt (und mich auch nicht), abends noch mit auf ein Glas zu gehen und zu lachen, auch wenn das weh tat. Durch diese schwere Innerlichkeit sind die heiteren Stunden des Apéro doch möglich. Ich liebe dieses Land so sehr, dass man einfach nicht davon kommen kann, ohne es ein bisschen länger beschrieben zu haben, selbst wenn man lange schon im Hotel in Wien ist. Ein Hotel ist ja ersteinmal ein Haus, in dem man eigentlich nicht zuhause ist. Die Zimmer gehören mehr denen, die es aufräumen, den Eingang bewacht ein Portier, der Nachtisch ist eine Pflicht den Kellnern gegenüber.  Aber es gibt auch Hotels in denen du richtig leben kannst, mit Durchfall wie in deinem Leben, sogar daran sterben könnte man da. Ob man jedoch in einem Hotel zuhause ist, wird erst im Ernstfall klar, aber das Bristol in Wien ist so ein Haus, genau wie das Sulthanamet in Istanbul oder das Grand Hotel du Cap-Ferrat an der Riviera. Vor allem aber im Bristol ist die Stadt mit im Zimmer, obwohl man ganz wunderbar alleine ist, während man sich ausscheißt und ausscheißt und vielleicht aus dem Fenster schmeißt, wenn man weiter so scheißt. Man wird zum Mitbürger einer Straße, eines Viertels, einer Idee. Im Spiegelschrank über dem Klo bedauert dich der Abendglanz der Stadt durch die Fenster: Welt genug. Tausend ferne Geräusche bauen Stille um dich her. Im Lack der Autos unten präsentieren sich die Lichter der Auslagen und grüßend sehen die Reklame von den Dächern auf meine kleine Welt. Nachts um drei noch nach Kohletabletten zu fragen oder einem Chirurg ist auch nichts schlimmes. Die fremdartigsten Dinge werden mit uralter Sicherheit in die Atmosphäre einbezogen. Der Arzt sagte, normalerweise blieben die Leute heute nicht mehr so lang in solchen Hotels, dass Durchfall samt Folgen in ein und demselben Zimmer bekämpft werden. Er sagte, sie schleppen ihn mit sich rum. Ich sagte, ich würde abwechseln und hätte drei Klos. Die ersten Nächte waren lang, jetzt bin ich auf Kohletabletten und kann langsam wieder Tafelspitz essen. Gestern war ich mit Durchfall sogar bei Vivaldi. Dem Doktor gefiel der auch. Das sowas Menschen machen. Wir waren beide der Meinung, dass OP.8. Nr. 2 Sommer RV315 Ill Pesto natürlich das Beste ist, aber ohne die anderen Lieder gar nichts wäre. Ein ultimativer Moment, der sich dazwischen nicht nur verschwendete. Natürlich wussten wir die genaue Bezeichnung nicht, die mussten wir googeln. Er beschrieben mir das mit einem Bienenschwarm und ich mit Bauchkrämpfen. Er sagte er liebe Vivaldi, nur nicht in G-Moll und ich sagte, ja klar, so als wüsste ich was er meint. Hier wüssten man aber auch wo meine Beschwerden herkommen. Durchfall und der kalte Stein auf den Sitzbänken in der Karlskirche, das vertrage sich nicht mit Tafelspitz und Blauburgunder. Auch wenns nur ein Achtel ist. Aber wir hatten gute Plätze ganz vorn, beheizt. Ich beschrieb ihm den schönen Geruch meines Sitznachbarn, der sich mit der Musik zusammentat. Es war eine Mischung aus Sachen, die noch von Mama gewaschen wurden, Motten und Hautcreme. Draußen nach dem Konzert sahen wir uns wieder. Ich sah erst ein schönes großes Mädchen und dann ihn. Das Schöne lauert überall, man sieht es in allem und jedem, und in Frauen, die einem hinterhergucken meistens als etwas, das gerade noch wegonaniert werden kann. Ich ging zu ihm ihn. Sein Name war Mario. Er verhielt sich wie jemand, dessen Vater ein berühmter Opernsänger in Mailand ist und trug auch solche Sachen. Lottriges Zeug mit Motten, dass vor ihm schon hundert andere anhatten. Mario war Ende dreißig, Single und stand noch auf Gästelisten. Ein ganz normaler Berliner. Drogennehmen ohne Selbstverantwortung, bis Papa aus Mailand kommt und den Perserteppich ausrollt auf dem man sich und seinen Selbstmordversuch auskotzen kann. Menschen wie Mario kommen direkt hinter jungen Australiern, die nicht mitbekommen haben, was in Europa los war, die letzten 2000 Jahre und jetzt Jesus entdecken und Menschen mit ihren Aszendenten belästigen. Seine Heimat war Mailand und Wien und seine Heimat konnte nicht Berlin für ihn sein. Er wollte anfangen, wie multikulturell und […]