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BYND

Konstantin Arnold

NACHMITTAGE

NACHMITTAGE

Heute Morgen Möhren geschnitten. Ganz bewusst. Nicht nebenbei. Gibt interessanteres, davon später mehr. Erst mal die Scheiße wegschaufeln vom Wochenende. War wieder viel los. Merke ich, weil ich wieder Dinge kaufe, bevor sie alle sind. Oreganoblüten, Streichhölzer, Kerzen, Möbelpolitur, Schaumwein, frische Chilis, Kupferstiche von Neapel, sonen Zeug. Es ist fast noch schlimmer, als in den schlimmsten Zeiten, als alles ganz und gar nicht lief, mit ihr und mir, und mir und ihr. Damals hatte sie keinen Job und ich kein Verständnis und wir keinen Staubsauger. Das machte was mit einem. Dazu noch Leben, Lieben, Schreiben, Lesen und dann das, was auch immer das ist, das wussten wir da ja noch nicht. Man braucht erst mal einen Moment, bis man versteht, dass das Wasser durch die Decke aus der Lampe in mein Arbeitszimmer läuft. Es war noch früh und wir hörten es im Schlaf eine Weile angenehm Plätschern, bis wir davon wach wurden und das Zimmer unter Wasser stand. Ich schöpfte zwei Stunden. Wie auf der Titanic, nur ohne das Untergehen. Ein Rohrbruch oder ein Loch im Dach, so richtig weiß das in Lissabons Altstadt natürlich keiner. Für jemanden mit ästhetischen Zwangsstörungen, für den alles an seinem Platz stehen muss, jedes Bild, jedes Buch, damit ich es dort finde, wie gelebt, ist das natürlich eine Qual. Mein ganzes geistiges Leben lag brach und ausgebreitet und durcheinander zum Trockenen im Wohnzimmer. Therapeutisch gesehen, ist das natürlich praktisch. Wir wussten nicht, ob das Wasser wiederkommt, keiner wusste das, aber ich entschied, es nach ein paar Tagen wie nach dem Erbeben 1792 zu machen, als die Leute das auch nicht wussten. Ich hing jeden Zettel, jedes Bild, jede Notiz wieder genau da auf und hoffte, dass die Decke hält und der Regen nie mehr so wieder kommt. Aber der Regen kam wieder und wie, an einem Nachmittag, und sogar das Pantheon, sonst strahlend weiß im Blau des Himmels, wurde unvorstellbar nass. Er fiel vom Himmel durch die Decken auf meine Seiten bis tief in diese Zeilen hinein, spülte alles aus, wusch alles ab. Den Dreck aus Kanalisationen. Die Leute sprachen von atmosphärischem Regen, aber das brauchten sie gar nicht, muss kein spezieller sein. Die Stadt kommt schon mit ganz normalem nicht klar. Hier kennt man nur den, der auch schon wieder vorbei ist. Er nimmt nie die gesamte Farbe des Himmels in Anspruch. Man spürt, dass über dem Grau noch was Blaues ist. Nur hat man diesmal dazu die Zeit umgestellt und es wurde früh dunkel und war frühs noch dunkel und die Nachmittage waren weg. Die Leute zogen sich wieder was an und gingen vor die Tür oder zündeten Kerzen an und hielten Rosenkränze und beten gegen Regen und dafür, dass die Mietpreise nicht weiter durch die Decke steigen. Sogar die Kreuzer im Hafen zogen still und unschuldig von dannen. Nur ihre Scheiße, die Pizzaschachteln und Krankheiten ließen sie zurück. Ich reg mich nicht auf, normal nicht, aber wenn dann noch Montag ist, Anfang Herbst und Windows ein Update macht und die Welt sowieso stillsteht, sieht einfach alles aus, als ob es nie wieder anders werden könnte. Nicht mal die Gitterstäbe im Park können dann noch helfen, die kahlen, die Statue und der Fluss, der aussieht wie das Meer, wenn das andere Ufer im Nebel liegt. Ein Schatten kommt über mich, nicht der später Sommernachmittage, der sowieso zum Licht gehört, nein, der scharfe Winterweltuntergangsschatten, der die sesshaften Dinge untersucht, bis in nie ganz aufgeklärte Ecken, wo Menschen nicht hinterfragen, und leben, als wäre es erst die Generalprobe. Das Verdauungssystem ist nicht umgestellt und drinnen wird’s dunkler als draußen, lange bevor die Tage zu Ende sind. Die viel zu frühe Dunkelheit schleicht sich ein und wechselt sich ab, wird hell, wird dunkel, während draußen Blätter hängen wie Erinnerungen eines Sommers im Wind. Meine Laune geht nun zum Teufel, der Schwanz  wird schlaff, die Gedanken finster und alle Gefühle sind knochenlos, die Welt ist ohne Glanz. Wer weiß dann schon, welcher banaler Mist sich einem noch in den Weg stellt, auf dem Weg hoch über sich hinaus, ins Unbedingte. Früher konnte ich daher Nachmittage nicht ausstehen. Sie schienen vorbei, bevor sie zu ende waren. Eine tote Zeit, teilnahmslos, Kaffee und Kuchen, Einzelkindmäßig, Diabetes, sonntags, hoffnungslos unterfordert, Trash TV, Deutschland, um vier. Die Dinge tot oder lebendig, aber immer fürchterlich eindeutig, wie Leere mit Einrichtungsgegenständen vollgestellt. Heute weiß ich, dass das von  Amifilmen kam, die mich meine Mutter an Nachmittag gucken ließ, weil sie nicht da war. Das waren Filme, in denen Familien in Vorstadthöllenreihenhäusern am Esstisch saßen und nicht mit einander redeten. Es war der  Filter einer amerikanischer Leere, der sich über die Nachmittage meiner Kindheit legt, bevor der wunderbare aus Paris kam. Jeder hat vielleicht so ein Trauma, eine unbegründete Niedergeschlagenheit, die ich aus Lissabon nicht kenne, wie von keinem Orten, an dem es hell erleuchtete Boulevards gibt, Aufgaben, Bars und Restaurants, Termine, Frauen und Männer. Sie feiern den täglichen Sieg über die Leere und das Ende und die […]