EXIL
Montagabend im März, am Rande Europas. Der Himmel wird langsam nachtblau, das Kastell gold und unter der Markise des Cafés ist noch Licht. Ricardo vom Café Nicola stellt langsam die Stühle rein, Jorge, der Schuhputzer hat genug und geht sich betrinken. Frauen in Bügelfaltenhosen müssen heim oder eilen zwischen den angestrahlten Gegenständen der Stadt irgendwohin, ganz fest davon überzeugt, schön wie noch ungelesene Zeitung, und der Klang ihrer Stiefeln läuft ihnen nach. Vor mir ihre Schlagzeilen, ein Glas Roter, Zigaretten und dahinter der Platz Dom Pedros, noch einen letzten Augenblick in der Sonne, jemand schüttet Spülwasser aus, dann schaltet sich die Straßenbeleuchtung ein und die Wege könnten nicht besser sein. Das Leben kommt einem sehr kurz und sehr lang vor. Frieden in Portugal. Alles wie immer. Ricardo kommt und fragt, wies so geht und ich meine ganz gut, nur dass heute mal kein Streit mit der Angetrauen eigentlich nicht gut sein kann darf, und dass ich im Leben nie gedacht hätte, mal in einer Zeitung vor einem Café von Inflation und Krieg zu lesen und das in Europa wieder Menschen sterben. Ricardo ist ein fürchterlich netter Kerl, der aber Zeitungen nicht ausstehen kann, schon gar keine Wochenzeitungen und schon gar keine Deutschen, die doch sowieso die schlimmsten wären, ohne Korrespondenzen, voll mit Ahnungen und Prophezeiung, Gerüchten und Geschwätz oder allein die Hinweise darauf. Ich lese daher eine Tageszeitung, lese von Inflation und Krieg und lese, dass in Europa wieder Menschen sterben. Ich dachte, ich würde nur in Büchern lesen, wie man damals in Zeitungen darüber gelesen hatte. Als Stilmittel eines vergangenen Jahrhunderts. Man entflieht der Geschichte Europas bis an dessen äußerem Rand, in ein kleines, fast aus der Zeit fallendes Küstenstätchen, nur Meer und Unendlichkeit im Blick, aber sie kommt hinterdrein, setzt sich mit an Cafétische, findet einfach statt und erinnert an sich selbst, obwohl man gut ohne schlechte Nachrichten auskommen könnte. Man weiß bei tausend Toten nicht, was ein einziger ist. Ich sehe einem vorbeifahrenden Taxi nach, als würde ich meinen Gedanken nachsehen. Ricardo steht daneben und versucht ihm zu folgen, sieht mit und denkt nach. Er denkt, immer bevor er spricht und ist sehr nett in der Art, wie er denkt und einem die Drinks bringt, aber eigentlich sprechen wir nie sehr lange. Er fängt zwar immer an zu reden und landet schließlich auch irgendwo, aber es ist eher das Vergnügen, zu entdecken, was der andere von dieser oder jener Sache hält, vom Stierkampf oder vom Fado, von Russen, Ukraine und ob wir mit unserer Meinung übereinstimmten. Wenn dem so ist, lächelt er dann immer, wenn er an meinem Tisch vorbeikommt und füllt nach, so, als ob unsere Übereinstimmung von nun an unser kleines Geheimnis wäre, um das nur wir beide wissen. Ricardo stammt noch aus einer Zeit, in der Männer noch Hüte trugen und Lissabon das Küssen auf den Straßen nicht konnte und man den Frauen auf ihrem Weg nicht nachpfiff, sondern von schon von weitem anfing zu pfeifen, weil es sich nicht schickte, eine Dame auf dem Rossio anzuhalten. Weißt du, sagt er nach einer Weile, es gab in Lissabon schon mal so eine Zeit, ebenso irre, nur ganz anders. Damals, als es stockfinster wurde über Europa und ein ganzer Kontinent zu brennen begann. Die große Flucht begann in den 1930er Jahren, erst aus rassisch, ökonomischen Gründen, später folgt eine zweite große Welle, die sich aus politischen Gegnern und einer kulturellen Elite zusammensetzt. Tausende kamen, Juden, Intellektuelle, Schriftsteller und Juden, die Intellektuelle und Schriftsteller gewesen sind. Menschen mit den nötigen finanziellen Mitteln, die durch Berufsverbote und Lebensgefahr ihre Existenzen verließen. Sie versammeln sich hier schräg gegenüber, in der Pastelaria Suíça, einem schöne Café, bis das Röhrenlicht kam und die Eile, die Lissabon über Expresszüge mit dem Rest Europas verband. Heute ein Hotel wie vieles Schöne. Es war ein legendärer Ort, nahe des Bahnhofs, der in Anspielung auf den Pariser Bahnhof Montparnasse, den Spitznamen Bomparnasse erhielt. Bom bedeutet gut und parnass sind Beine. Lissabon war in den 30ern ein Dorf, es döste trotz seiner 600000 Einwohner provinziell vor sich hin. Plötzlich kamen all diese Flüchtlinge und brachten die Freude mit, am Leben zu sein und saßen in den Kaffees bei Sahnetörtchen. Auf einmal wandelte sich die Stadt zur Metropole, voller fremder Sprachen und Hoffnung, Umarmungen ernster Männer, internationaler Lärm, Leuchtreklame und Frauen in den Cafés. Die sorgten für Aufsehen. Sie trugen hochgesteckte Frisuren ohne Hut, kurze Röcke, rauchten in aller Öffentlichkeit und kamen allein. Der portugiesische Schriftsteller Alves Redol fand das nicht schlecht und schrieb: Auf Verlangen der Ausländer, die aus Ländern ohne Sonne kommen und sich wieder für das Leben erwärmen wollen […]