EPISODE AM GENFER SEE
Ob ich schon mal in Lausanne gewesen bin, kann ich nicht sagen. Es gibt zu viele Seen in der Schweiz, an denen ich schon ein schlechtes Gewissen hatte. Die Welt scheint dort einfach zu in Ordnung. Vorfahrtsregeln, Blumenbete, sehr biologisch angebaute Buttermilch, Atommüllendlager, alles genau geklärt. Aber nein, das ist kein Einstieg, nicht der den ich will. Nochmal. Ob ich schon mal in Lausanne gewesen bin, kann ich nicht sagen. Es gibt zu viele Seen in der Schweiz, die schön sind und zu viele Gründe, sich an ihnen abzuspielen. Das Stück von Nizza nach Genf ist überhaupt eines der Stücken Welt der Welt. Schon besser! Oder lieber doch nur einmal Welt? Das Stück von Nizza nach Genf ist überhaupt eines der Stücken schönsten Stücken Welt. Die stolzen Städte und Dörfer spiegelten sich eitel im See. Ihre Lebensart bleibt einem verschlossen. Rechts waren die Weintrassen der Lavaux, links lag der See und auf der anderen Flussseite die Berge. Ich las Camus Wüstensgeschichten, aber wusste selber, dass man irgendwann stirbt und das Buch passte nicht zur Landschaft und ich legte das Buch wieder weg. Keine Kirche war höher als die Zypressen. Man fuhr dicht an den Gärten der Herrschaftshäuser vorbei, deren Dächer zum See hin brandeten. Ihre Gärten blühten. Die Luft war frisch und ich sah die Berge und den See und freute mich sehr, dass ich lebe. Ich kam mit dem Zug in die Stadt und hatte mein Bahnticket in der Brusttasche. Der Lärm des Tages legte sich gerade und die sanften Töne des Abends stimmten sich ein. Die fertigen Vorstellungen trieben die Menschen aus ihren Theatern auf die Gassen, um sich aufzuführen. Straßenbahnen fuhren vorbei, nahmen ihren Lärm aber gleich wieder mit. Die stolzen Häuser standen alt und ruhig für sich da. Verliebte lagen im Park und sahen in den Himmel. Es war wirklich Frühling, Gott und die Welt saß auf den Terrassen der großen Hotels und legte seine Augenblicke auf den See. Die Sonne ging unter und irgendwo wieder auf und das Leben war so einfach gemacht, wie Campari Orange. Es fühlt sich an, wie der See aussah. Gut und klar, bis zu den Alpen und dann dunkel, wolkig und geheimnisvoll, voll tiefer Gedanken, die sich am Rand des Bewusstseins verfangen. Aber hier, von den Terrassen bis zum See, hätte man denken können, es wäre immer sieben Uhr und immer Zeit für einen Drink und nie Nacht. Ich hatte eingecheckt und mich auf die Terrasse vor einen Drink gesetzt und war zum Abendessen verabredet. Keine Ahnung mit wem. Jemand vom Hotel wollte mich kennenlernen. Es waren immer die gleichen beschäftigten Leute mit zwei Telefonen, die ganz toll vom Hotel redeten, bis sie kündigten und vom nächsten Hotel das gleiche sagten. Es war zwecklos, aber ich war froh, nicht allein zu essen. Ich traf sie im Restaurant. Sie trug einen gerade gekauften Regenmantel von Burberry. Das gerade gekaufte, konnte man sehen. Man konnte es an der Verzweiflung sehen, mit der sie ihn drinnen trug und auf Regen hoffte. Sie war sehr gleichalt. Groß und blond und blass. Jung für ihr Alter, oder für ihr Alter schon alt. Wir aßen irgendwas und sprachen über Banales. Bedeutungsloses Zeug. Aber was bedeutet überhaupt irgendwas, wenn nicht das Wetter in Lausanne oder der Kaffee in Neapel. Ich sagte, sie sei Französin, sie wüsste, wie schlecht Kaffee schmecken kann. Pariser Cafés sind ja auch nicht mehr das, was sie nie waren. Der Lebensraum der Künstler ist der Kunst zum Opfer gefallen. Der Wartesaal der Talente wurde zum Industriegebiet der Intelligenz. Was es überhaupt noch heißt Autor zu sein? Menschen beim Essen zu beobachten und sich zu fragen, woher sie kommen, wer sie sind und für welchen Fußballverein. Wie man das macht? Man sucht nach Hinweisen, Tätowierungen, Fanschals, Kleidung na klar, wobei die heute nichts mehr über die Leute sagt. Man ordnet ihre Bewegungen ein, guckt wie sie gucken, wenn man guckt und wohin. Was ich sonst noch gerne mache außer Menschen wie Gemälde betrachten? […]