DAS ELEND
Am anderen Ende des Rossio, vom Schiff aus gesehen, gleich rechts neben der Inquisition und links vom McDonalds, vor dem Hutladen und zwischen den beiden Ginjinha-Kneipen, die es tatsächlich noch gibt auf dem Platz, von dem die kleine Gasse mit dem Buchladen zum Martim Moniz führt, diesem Dreckloch, und eine andere in die fast vergangene Vergangenheit des Restauradores, also gar nicht weit von der ausgebrannten Kirche, sitzt Tag aus, Tag ein, ob Ostern oder Silvester oder Senegal im Final, sieben Tage die Woche, ein Haufen Schwarzer mit Strohhüten, afrikanisch, rauchend, reglos wie Pilze, zufrieden ohne Licht, im Schatten einer Pinie, an die kühle Mauer gelehnt. Das lässt sich nicht leichter sagen, und auch nicht politisch korrekt. Jorge, mein Kumpel, der Schuhputzer, meint, die verkaufen da irgendwas, was wüsste er aber nicht und er wüsste, nach fünfzig Jahren auf dem Rossio, sonst was alle verkaufen. Es herrscht Verheißung und Schwermut auf Stufen, die keine Tribünen sind. Hoffen, dass irgendwas passiert. Alle aus der Enge ihrer Wohnung vertrieben, definitiv ums sichs von einer guten Geschichten besorgen zu lassen. Einmal am Tag gibts hier Essen, was aber noch kein Grund ist, den ganzen hier zu sein und so zu schwitzen. Ab einem gewissen Moment am Tag, wischt man sich den Schweiß nicht mehr ab, sondern sitzt mit geschlossenen Augen an die Mauer gelehnt, die Beine von sich gestreckt, und resigniert. Es ist schlimm, solang man sich dagegen wehrt. Manchmal kommt einer mit einem Rollkoffer Sachen vorbei und alle stürzen sich drauf. Sie folgen ihm dann in die verwinkeltsten Gassen, die sich, wie gesagt nicht beschreiben lassen, ohne das man sich dabei verliert. Die meisten Penner haben dann neue, gebrauchte, geklaute Sachen an, oder was es eben gab und kommen stolz wie aus einer Zauberkugel. Sie liegen dann mit neuen Sachen im Schatten und vor ihnen rennt die Welt vorbei, ohne was abzugeben. Sie müssen nun warten, warten dass die Sachen wieder dreckig genug werden, wie nach einem Haarschnitt. Sie warten und hoffen, hoffen, dass der Tag die Zeit rumkriegt, mit einem Telefon am Ohr und Perlen in der Hand, wie eine Meeresfrucht an der Touristenbrandung, das ist noch besser als Pilze. Diese Leute sind die Wächter einer Welt, den letzten Sackgassen, die es noch gibt, denn hinter den Pennern und Afrikanern und Afrikanern, die Penner sind, erstreckt sich eine Welt aus Müll, Drogen und Dreck, die sich nicht renovieren lässt. Genau hier wohne ich. Der Campo Sant’Ana ist ein hoher Hügel, der zwischen der Almirante Reis und der Avenida liegt. Er ragt wie der Bug eines großen Schiffes in die Unterstadt hinein, als wäre er, auf dem Weg zum Fluss, aufs Trockene gelaufen. Seitdem wird er belagert, wie eine Burg, in dessen Gassengewirr sich das Ungeziefer vor den Blicken verkriecht, das Elend, Victor Hugo, die Aussätzigen und Abhängigen, die Gescheiterten und Krüppel, die uns im Vorbeigehen mit ihren Existenzen erschüttern. Es ist eine Haufen aus Häusern, hinter denen sich das Scheitern verbirgt, das Leid, die Miserablen und ich. Sie sammeln sich wie vor der ersten Welle im Hafen und am Rossio ist dann wieder alles schön, wie weit draußen auf dem Meer. Man kann so schon zum Rassisten werden, aber es gibt genug asoziale Portugiesen hier, die einen daran hindern, fürchterliche Franzosen und Leute, die sich Schriftsteller nennen und den ganzen Tag in den Cafés saufen, während ich hier sitze und verzweifle und erst dann Saufen gehe. Man tritt aus diesem Viertel wie aus einem Vorhang auf den Rossio. Hinter dem Vorhang sind Gassen, die außer mir sonst niemand geht, der nicht eine Art Ort sucht, den man mit vierzehn zum Kiffen gebraucht hat. Es wird geschissen, gepisst, gewixt, gefickt, Crack geraucht und der Müll nicht getrennt. Am schlimmsten ist das an heißen Tagen. Dann vertrocknet die Pisse noch bevor sie den Hang runter gelaufen ist und liegt in der Luft, zusammen mit der Scheiße, die auch in der Sonne trocknet und dem Müll, den nie jemand trennt. An nicht so heißen Tagen ist die Straße ein steiler, schluchtartiger Abfluss. Sie fängt schön an und wird dann sehr schlimm. Das Schlimme staut sich unten wie das Blut in den Füßen älterer Frauen. Amalia Rodriguez wurde hier geboren. Für jemand, der von irgendwo kommt, ist das alles natürlich nur irgendsoeine Straße, bis die Straße dann zu der Straße wird, in der man wohnt. Es ist anders in so einer Straße zu wohnen, als durch sie zu gehen. Man ist davon überzeugt, dass es die Einzige Straße ist. Ich glaube, Verlieben funktioniert so […]