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BYND

Konstantin Arnold

ALTMODISCH

ALTMODISCH

Es war nur so, weil sich die ganze verdammte Ausgangssperre wie ein wochenlanger Sonntagabend anfühlte, an dem man nichts mehr kaufen konnte. Man konnte nur sein und genießen, wenn man alles Nötige dafür gekauft hatte. Mehr konnte man nicht tun. Im ganzen Leben nicht. Man konnte nur alle seine Sinne stimulieren, so gut wies ging. Edle Weine trinken, gutes Essen essen, schöne Frauen ficken, Zigarren rauchen, Rodrigo Leão hören, Gedichte von Robert Gernhardt lesen. Von einem Fenster im Hinterhof, den Lauf der Dinge beobachten, die Katzen, das mit den Jahreszeiten, alles, was sonst nicht der Rede wert war und am Ende doch alles ist. Der letzte Abend vor der Ausgangssperre wurde ein Abendmahl. Wir trafen uns und gingen los und kauften schöne Sachen, die man Trinken und Essen konnte. Für jede einzelne Sache gingen wir in einen ganz bestimmten Laden, auch wenn die Sache noch so klein war. Die Läden wurden von Menschen geführt, die ihre Rechnungen noch mit der Hand schrieben und sich dann verrechneten und nochmal von vorne anfingen und dann etwas vergaßen und man sie höflich darauf hinwies, weil sie einen oft einfach gehen ließen, wenn man nicht genügend Bargeld dabeihatte. Hinter ihnen standen geschälte Tomaten in Konservendosen, wie in einer anderen Zeit. Es war die Kulisse einer Vergangenheit, die seltsame Zeit einer Sehnsucht, die tief in einem drinnen wächst und der Zeit folgen will. Manche Tomatendosen standen da, wie Statuen im Herbst in Paris. Das klingt vielleicht nicht so spannend, aber in einer Zeit, in der mit der Liebe nicht viel los war und wir in unseren Wohnungen leben mussten und die Restaurants schlossen, war es das einzige, was wir tun konnte. Man konnte ansonsten nur noch loslaufen und auf der Straße mit irgendwem ein Gespräch anzetteln. Wir kannten die meisten Ladenbesitzer und sie erklärten uns alles über diese und jene Sache und sie hatten immer etwas ganz Besonderes für uns da, dass immer besonderer wurde, je öfter wir kamen. Weil sonst niemand kam, erkannten uns die Ladenbesitzer wieder und wir tauchten aus den Touristenfluten auf wie ein U-Boot. Sogar bei Manuel Tavares erkannten man uns. Manuel Tavares oder ein Nachkomme dieser Helden erklärte uns, dass man alte Weine nicht unbedingt horizontal lagern muss und dass Zigarren am Tejo keinen Schrank brauchen, weil die Luft vom Fluss gut genug ist. Außerdem bekämen die alten Weine aus Colares, durch die langen Jahre der Entsagung, ihren Wert und wir sollten noch eine Kiste mehr kaufen und sie lagern und ich meinte, dass die bei uns nicht überleben würden, weil es immer eine Nacht gibt, in der es nichts mehr gibt, vor allem jetzt. Wir kannten zwar immer einen Laden, der uns nach der Sperrstunde noch eine Flasche als Obstkiste getarnt verkaufte, aber es war nicht das gleiche und irgendwann gingen uns die immer neuen Regeln ins Mark und die Seuche infizierte unser Unterbewusstsein. Es war als auch die Parks schlossen und die Bänke und man nirgendwo mehr sitzen konnte. Trauer und Enttäuschung der Menschen legt sich über die Straßen. Jeder Tag sah aus, wie der davor und es war egal, ob es gute oder schlechte Tage waren, denn alle Tage waren gleich. Die Tage waren nur noch eins in uns. Ein fernes Dach im Nebel eines planlosen Tages, noch ein Baum, mehr nicht. Die Statuen stehen unangeschaut da. Die Laternen auf der Burg gehen für niemanden an, wie Sterne. Nur gehören sie nicht zum Himmel, sie gehören der Stadt, wie die Stadt zum Himmel gehört. Die angestrahlte São Vicente de Fora hebt sich marmorgold vom Regenhimmel ab und die Stadt präsentiert sich ihre gestiegenen Treppen hinab. Keine Esskastanien mehr, diesen Winter. Man hatte uns um eine Jahreszeit des Lebens gebracht und wir betrachteten Lissabon, von hier aus der Ferne einer Erinnerung. Eine Hausfassade hoch. Einen Hauseingang rein. Ein geöffnetes Balkonfenster, wie es auf einen kleinen Platz guckt. Das Leben verlor seine Selbstverständlichkeit, was irgendwie auch schön war. Es war vielleicht das einzig Gute daran und, dass man ein Problem hatte und sich keins machen musste. Aber wir wollten das Leben auf den Straßen wieder und wir wollten unser Leben wieder und nicht verlernen, wie man vor einer anständigen Bar steht und einen Drink hält […]

GESTÄNDNIS

GESTÄNDNIS

Als es anfing aufzuhören, kam es anders. Es begann mit einem Ende, weil jedem Ende, jedem Irrtum, ein Anfang, eine Antwort innewohnt. Ein irres Ende also, das es dann so nicht gibt. Man wird sehen oder auch nicht, ist jetzt auch egal, weil alles egal geworden ist. Leben und Liebe, Leben und Tod, Liebe und Tod. Warum alle die Gedanken gemacht, mich zu Erkenntnissen durchgerungen, die ich selbst nicht glauben konnte und an die ich mich klammerte, wenn ich umzingelt stand von Erfahrungen, belagert wurde von Frauen und den Geistern dieser Frauen, die mir aus ersten Nächte nacheilen, wenn ich sie aus dem Erlebten rief, das mich schuf. Aus den Erfindungen von Erinnerung. Je mehr ich mich erinnere, desto fernen rücken die Tatsachen der Orte, an denen wir uns trafen, die Bars, in die wir gingen, die Gespräche, die wie führten und die dunklen Straßen, in denen wir übereinander hergefallen sind. Die Vergangenheit konstruiert sich selbst aus der Gegenwart heraus, nutzt sich ab, wie Gedanken, die man zu viel gedacht hat und an Erinnerungsfäden herbeizerrt, bis sie reißen. Ich erinnere mich an ihre Namen, aber was wir taten, weiß ich nicht. Was wir taten liegt jetzt bei all dem anderen Getanen in mir drin und pflügt in Raubtierform durch mein Gedächtnis. Wir waren nah dran und dann nochmal näher, an einer Straßenecke. Auf der anderen Seite war ein Fastfood Restaurant und die Leute konnten uns sehen. Sie bebte vor Kälte und die langen dünnen Nippel waren kalt und sie stand nass und schlank im Regen, mit den Kurven einer südamerikanischen Gebirgsstraße. Dann diese Leere, die immer kam, die man immer spürt, wenn man nicht liebt und merkt, dass man das alles nur dafür tut und wie leer das jetzt alles ist und nichts mehr dahinter ist, weil man alles, was man tut, dafür getan hat. Alles Gute und alles Schlechte hinterlässt eine Leere, wenn es passiert. Das Gute füllt sich von alleine, aber das schlechte muss aufgefüllt werden, weil man es aus falschen Gründen tut oder aus gar keinen Gründen getan hat, was das Gleiche ist. Dahinter ist Abgrund. Freier Fall. Die Lehre der Leere. Sie wartete dann immer schon auf mich, wie auf Leute, die sich ständig Neues kaufen. So ist es doch, oder ist es so nicht gewesen? Niemand kann aus Erinnerung wahre Tatsachen niederschreiben. Manche Bilder brennen sich ein, werden zu Denkmälern, andere nehmen es ein. Ich fühle das wahrer als ich es schreiben kann und schreibe es, als ob es wahr gewesen wäre. Alles Erlebte ist Geschichte, sobald man sich daran erinnert und es erzählt und nichts mehr vom Leben übriglässt. Man verwickelt sich in Geschichten und lebt nicht mehr, sondern erzählt nur noch, wie viele Frauen man nicht verlassen hat, aber man verlässt eine Frau nicht einfach am nächsten Morgen, man tut es früher oder später oder nie. Man geht auf Reisen, sucht den einen Ort, der frei ist, von Geschichten, die wir über ihn gehört haben und Menschen, die an ihm Mythen geworden sind und Idole schufen, mit denen wir uns herumschlagen müssen. Den Wert eines Mannes sollte anhand der Geschichten bestimmt werden, die er nicht erzählt. Aber nein, wir leben von unseren Geschichten und den Geschichten anderer und wir leben durch sie hindurch. Wir kennen das Ende unserer Geschichte nicht und lassen die Ereignisse unbeachtet und abenteuerlos an uns vorbeigehen. Sie passieren ereignislos an uns vorbei, sehen nicht wie passieren aus, wie auch, wir kennen ihr Ziel nicht. Würde wir ihr Ende kennen, wir würden am Ende beginnen. Es würde die Einzelteile des Lebens in Ankündigungen und Verheißungen verwandeln, die für das bloße Auge sichtbar werden, weil wir vom Ende aussehen und von etwas Großem angezogen werden. Aber die Zukunft ist noch nicht da und ich spaziere weiter durch die Nächte meiner Tage, die mir ihre Schätze zeigen und ich wähle nicht. Wenn man sich jedoch einen Augenblick ganz genau einprägt und sich vornimmt, sich später einmal genauso daran zu erinnern, schafft man eine Verbindung zwischen Gegenwart und Zukunft. Am besten geht das mit jungen Bäumen. Die an den Kais, die noch so klein sind und später ganz groß sein werden und ich meiner Tochter das Fahrradfahren unter ihnen beibringe und die Bäume sehe und mich daran erinnere. Ich kann es nur vergessen und mich dann wieder daran erinnern, ich kann es nicht mit mir herumtragen. Meine Gedanken werden Träume, die anderen nur nachts kommen. Sind Wünsche, sind Ängste, aber ich wünsche nichts mehr, also bleiben nur die Ängste. Kein sicherer Ort.

SOLITÄR

SOLITÄR

Ich hatte ihn bei einem Abendessen kennengelernt und wir sprachen über das Restaurant und er fragte, was ich an diesem Restaurant mochte und ich erklärte ihm, wie es früher war, als man Sägemehl auf den Boden streute und auf den Boden rotzen durfte und da versuchte er, es zu mögen und so saßen wir da, ich, der es mochte und er, der versuchte es zu mögen und mich danach fragte. Er sagte, er verstehe das schon, Lissabon, die Romantik alter Lokale und ein Lokal als urbaner Raum zufälliger Begegnung und so, die Anonymität der Stadt mit den flüchtigen Frauenblicken der Boulevards, die kommen und gehen und ich sagte, er verstehe gar nichts. Er hatte keinen Plan von der Stadt und dem Leben in der Stadt, denn er lebte draußen auf dem Land und aß komische Sachen und sagte, dass wir komische Sachen essen würden. Er kannte das Leben aus der Stadt nur aus Büchern und den Geschichten, die ich über die Stadt geschrieben hatte, aber er kannte das goldene Licht der Straßenlaternen nicht und die frische Morgenluft oder den Klang der Gitterstäbe, wenn man seinen Regenschirm an der Umzäunung eines Parks entlangrattern lässt oder den Rauch der Esskastanien, die viel mehr sind als Kastanien, die man essen kann, weil ihr Rauch für den Spezialeffekt der Stadt verantwortlich ist. Er wusste nur, was er kannte und seine Sinne empfinden, wenn sie eine vorbeischreitende Frau in sich schloss und forttrug, auf ferne Reisen in Gedanken, durch die Tage aller Zeiten, in denen er dahinging, wie die Hoffnung geht, von einer zur nächsten, und als er zu allen auf dem Land gegangen war, kam er in die Stadt. Er sah sich die jungen Frauen auf den Straßen an, die nie alt werden und dachte, dass die auch mal alt werden, aber man sah es nicht. Nur zeitweilig sah man es, wenn man eine festhielt und das alt werden mit ihr in sich fühlte, wie die Liebe. Er sagte, er hätte eine Weile so eine gehabt. Sie wäre lieb und duldsam gewesen, so wie Frauen sind, wenn man sie bezahlt, aber sie hatte dann gewählt wie Frauen wählen, für immer. Er war überzeugt davon, dass wir Frauen, die wir für immer wollten, aber nicht immer, nicht retten konnten, weil wir sie nicht genug liebten oder gar nicht liebten, was dasselbe ist. Also beendete er es und sah sie, weil es auf dem Land kein Entkommen gibt, das arme gebrochene Mädchen in Tränen gebadet, die Gebrochene gebadet in Tränen und er sah ihre Brüder mit Wut in den Bäuchen und Blut in den Fäusten. Verdammt, was hätte er denn tun sollen. Dortbleiben? Sich breitschlagen lassen? Sechs Wochen das Bett hüten, sie in sein Herz dringen lassen, bitterlich erweichen, heiraten, sich ihren Eltern vorstellen, Brüdern und Freundinnen. Er erklärte mir, wie es war und passiert ist und wie gut sie ihn kannte und es ist immer dasselbe. Ich sagte nichts und dann sagte ich, dass sie vielleicht alles wert gewesen wäre. Er geht an ihr vorbei, wie an einem Haus, in das er eines Tages einzieht. Vielleicht ist sie das Ziel allen Strebens und wenn sie das ist und er ihr hinterherging, weil ihn alle anderen ankotzten und er sie bekam, was will er dann noch von allen, die ihn angekotzt haben. Er hätte sie ja nicht gleich heiraten brauchen, aber zumindest in sein Herz dringen lassen können und sie aus den Armen dieser Zuhälterbrüder befreien müssen. Er hätte sich seine Worte und Gedanken sparen sollen und nicht an mich oder andere verschwenden. Du hast Recht, sagte er. Ich hätte es […]

ZUFÄLLIG & SCHÖN

ZUFÄLLIG & SCHÖN

Ich hatte es eilig. Chiado war hektisch und voll. Zum Teufel mit den Geschenken. Ich wollte zur Sapataria Do Carmo, ihr diese schönen Stiefletten kaufen und dann zu George, dem Schuhputzer, damit er sie mir für die Feiertage zurechtmacht. Eigentlich war das den Stiefelen egal, aber ich tat das für George und für seine Feiertage. Wenn ich danach noch Zeit hätte, könnte ich mir oben in Real das späte Nachmittagslicht angucken und meinen Mantel zum Reinigen abgeben und später noch ein paar Leibesübungen machen, damit ich weiter so essen und trinken kann, wie ich das wollte. Es ging darum, nie fett zu werden und seine Figur zu halten und ich glaube sie veränderte sich nicht, man dachte nur mehr darüber nach, weil man vorher nie darüber nachdachte und man mit jedem Alter sinnvolleres zu tun hatte, als an seine Figur zu denken. In welche Kirche ich an Weihnachten gehen würde, wusste ich auch noch nicht und ich dachte, noch so viele andere Dinge vor Weihnachten tun zu müssen, die ich nicht tun musste, aber immer dachte, ob Weihnachten war oder nicht. Letzte Woche hatte ich ihr schon eine rote Baskenmütze geschenkt, die alle für eine Parismütze zu Weihnachten hielten und eine Klobürste und einen ordentlichen Flaschenöffner. Ich war dafür in einem Laden, der seit 1835 Flaschenöffner verkauft, und seit alle Scheiße fressen und die Scheiße widerspenstig ist und stinkt, auch anständige Klobürsten. Es sind gute Bürsten, aus Metall, mit dunklen Borsten, damit man die Scheiße nicht so sieht und einem Deckel, auf dem Blumen sind, rote und gelbe. Ich ließ beides schön einpacken. Nachdem ich noch keine Stiefel gekauft hatte und noch nicht bei George gewesen war, ging ich hoch nach Real, um mir das Licht anzugucken. Ich hatte es jetzt noch eiliger und mein Mantel flog mir hinter im Wind, wie ein Umhang. Ich sah aus wie einer, der zu einer Frau eilt, um ihr zu sagen, dass es doch nicht aus ist, oder wie einer, der etwas tun wollte, bevor er es ganz vergisst, oder wie einer, der immer noch keine Stiefel gekauft hatte und noch nicht bei George gewesen war und hoch nach Real ging, um sich das Licht anzugucken. Ich wusste, dass so ein Mantel besser aussah, wenn man geschlossen in ihm schlenderte, Hände in den Taschen, Hut auf, Kragen hoch, aber manchmal war das eben so und man konnte ihn auch auf diese Weisen tragen. Als ich oben ankam, war das Licht schon weg oder es ist an diesem Tag nie da gewesen. Ich wusste es nicht. In diesem Dezember konnte man das nie sagen, weil die Sonne den Tag über den Wolken verbrachte und erst am Schluss unten rauskam und sich zwischen Wolken und Horizont zeigte. Die Strahlen waren dann umso intensiver und vom Praça do Príncipe Real, genau dort, wo die Rua Cecílio de Sousa auseinander und wiederzusammengeht, sah man sie am besten. Solche Straßen, dachte ich, werden heute gar nicht mehr gebaut und als ich das fertig gedacht hatte, rief eine Frauenstimme über den Platz. Sie rief meinen Namen und sie rief hier und nochmal meinen Namen und dann huhu und ich sah sie und sie winkte. Die Frauenstimme gehörte […]