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BYND

Konstantin Arnold

MADRID

MADRID

Madrid ist immer eine sehr glückliche Zeit und über glückliche Zeiten gibt es nicht viel zu schreiben, außer wenn man sich sehr bewusst ist, wie kostbar sie sind und wie leicht sie vergehen, ohne vorsichtig zu werden. Man muss dafür nicht das Leben eines Toreros führen, es reicht ein fantastischer Geist zu sein, der gerne denkt und weiß, was passiert und nicht passiert und das dann schreibt, als ob es gar nie hätte anders gewesen sein können. Es ist immer langweilig, wenn zwei glücklich sind und man nicht mit oder nicht mehr und will, dass sie es auch nicht mehr sind. Menschen wollen es nicht hören, weil sie es für sich wollen. Man will nicht lesen, dass sie Straßen gingen, die keinen besonderen Namen haben und in Restraunt aßen, die niemand kennt und bei Nacht Dinge taten, die keinen so sehr interessieren, wie sie selbst. Nicht nur das, aber man hat das eben, was wir alle suchen und kann sich dem widmen, und es, wenn man will, mit in eine Bar nehmen oder ein Tanzlokal oder andere schöne Orte. Gerade weil Madrid dann eine sehr glückliche Zeit ist, muss man darüberschreiben. Wir kommen zwei, drei Mal im Jahr. Diesmal kam ich mit dem Zug aus der Meseta, sie etwas früher mit dem Flugzeug aus Lissabon an. Man sagt das spanische Hochland wäre auf gewisse Weise negativer als die Wüste. Die Wüste verspräche nichts, die Meseta wäre ein gebrochenes Versprechen. Ich wollte das verstehen und dass Madrid eine 657 Meter hohe Stadt ist. Vom Flugzeug aus sieht man das nicht. Man sieht das kahle Land um Madrid, vor allem bei Nacht, wie Dörfer im Meer der Nacht sieht das aus, aber man sieht die Steigung nicht, nie. Von Lissabon aus fliegt sich’s bequem. Es gibt Flüge am frühen Morgen und am späten Abend und der am späten Abend ist gut, weil man fast in Lissabon ankommt, bevor man losgeflogen ist. Der Zug braucht zwölf Stunden. Dafür wird man langsam vorbereitet und kommt an der Puerta de Atocha an. Sehnsüchtig, hungrig und fast im Palace Hotel. Unser Madrid besteht aus Orten, die wir kennen und neuen Orte und Orten, die wir kennen, aber noch nicht so, wie wir jetzt sind. Reisen ist ja nichts neues, Orte sind überall. Es geht darum, sich an ihnen selbst zu erfahren. Im Prado Museum ist es am meisten so. Man steht vor den gleichen Gemälden und es sind immer andere. Es gibt ein paar die immer gleich sind und immer anders und manche, die einen noch nie so faszinierten wie jetzt. Jusepe de Riberas Martyrium des Hl. Philippus ist so ein Bild. Wie die Frau im unteren Bildrand aus dem Gemälde guckt. Sie guckt aus ihrer Zeit bis heute, so als ob sie den Wert des Gezeigten und den Fehler des Getanen schon damals kannte. Sie schaut, als könnte man sie verstehen. Nicht das Rot oder das Leid nimmt einen gefangen, nicht mal Riberas Maria Magdalena oder seine Maria Magdalena mit Bart, so sehr, wie der Blick dieser Frau gefangen nimmt. Und das kurz nach dem Mittelalter, dessen Bilder noch zeigen, wie Frauen damals Schwanger geworden sind: per Lichtstrahl, der von einem Engel ausging, wie auf Fra Angelicos Verkündung. Gemälde, die immer eine gleiche Kraft haben, sind Claudio di Lorenas Einschiffung der Hl. Paula zu Ostia, Johanna die Wahnsinnige oder Fabrés‘ Sklavin, auch wenn ich da nichts Sexuelles drin sehe, so wie sie. Ich stand minutenlang vor diesem Bild und manchmal kam jemand und stellte sich dazu und es war dann ein sehr intimer Moment, so als ob man diesen Moment zusammen im Bett dieses Bildes verbrachte. Mit ihr war es nicht so unangenehm, aber es passierte selten, meistens war es eine einsame und individuelle Erfahrung und nach einem Museumsbesuch versuchen wir, beim Mittag zu erraten, welche Bilder den anderen am meisten […]

REGEN IM RETIRO

REGEN IM RETIRO

Ja, das waren sie, Tage im Himmel. Tage, die für ein ganzes Leben gereicht hätten. Tage, die Nächte wurden, aus deren Träumen, die Tage waren, die Nächte wurden und wieder Tage und dann nichts, außer dem, was wir in diesem Text von ihnen aufbewahren. Diese Tage ließen sich leben, so wie man sich eines Tages an sie erinnern möchte. Sie sind vergangen und das ist schlimm und das ist schön so. Niemand kann uns diese Tage je wieder nehmen, denn sie sind passiert und ich bewahre meinen Teil von ihnen auf, in einer großen Brust, in der ich alle meine persönlichen Sachen aufbewahre. Wer sie mir nehmen will, muss mich töten, wie einen Stier, mitten ins Herz, dort wo die Tage sind, ohne die ich zu leben, nicht mehr imstande wäre, weil sie eben so passiert sind und für ein ganzes Leben gereicht hätten. Sie sind alles, was wir sind. Manche von ihnen waren so wahr, dass sie beim Leben einen anderen Menschen aus uns gemacht haben. Etwas Unzertrennliches, etwas Ausschließliches, etwas Heimliches, etwas, dass uns gehört, weil nur wir beide davon wissen. Und wenn wir morgen sterben müssten, weil man uns diese Tage wieder nähme, gäbe es heute nichts, dass wir an ihnen ändern würden. Der Tod konnte uns im Westin Palace sowieso am Arsch lecken, die hatten goldene Bidets und Klopapier mit Krone auf jedem dritten Blatt. Wir warteten unverwundbar und sauber auf ihn, draußen wüteten 38 Grad. In Deutschland gäbs sowas nicht. Wahrscheinlich, weil im Kalten das mit der Kacke nicht so schlimm ist, außerdem ist der Tod dort pünktlich. Die Menschen im Westin konnten sich gut hinter ihrer Zivilisation verstecken. Man konnte sie kaum noch erkennen. Sie saßen in sorglosen Anzügen und kurzen Röcken in der Lobby und verschränkten die Beine, so als würde es keine Eier geben oder niemanden, der guckt. So als hätte jeder von ihnen sein eigenes Badezimmer und müsste die Oliven und die Nüsschen, die es zu den Drinks gab, gar nicht selbst verdauen. Das imponierte uns und wir kannten uns zwar gut, aber nicht so gut, dass wir uns zur gleichen Zeit im selben Badezimmer aufgehalten hätten. Wir wollten uns auch nicht ein gemeinsames Badezimmer gut kennenlernen, einige Menschen hatten wir schon zu gut gekannt. Doch nichts konnte jenen Tagen etwas anhaben. Sie beschützen uns seither vor dem Tod, so wie uns die Klimaanlage im Westin vor den 38 Grad und die seine zwei Bäder vor dem besseren kennenlernen beschützt haben. Leider lassen sich diese Tage nicht so schönschreiben, wie man sie gelebt hat, aber sie werden im Prosagebirge durch ihre Einfachheit zu sehen sein, weil sie wahrhaft schön sind und aus ein paar Hügeln kein ganzes Gebirge gedichtet haben. Die Berge waren alle schon da, ich musste sie nur […]