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BYND

Konstantin Arnold

KARLSBAD

KARLSBAD

Neulich haben wir dieses Spiel gespielt. Would you rather heißt das. Es war schon spät oder früh oder wie auch immer, und wir saßen so tief in einer dunklen Lissabonner Bar, das es ganz egal war, wie spät oder früh oder egal es gewesen ist. Das Spiel ist einfach. Man trinkt und fragt sich gegenseitig schlimme, dumme oder perverse Sachen, denen zwei Antwortmöglichkeiten vorgegeben werden, die beide verehrend sind. Eine vielleicht weniger verehrend als die andere, aber das kommt auf die Person an. Wie immer sich diese Person auch entscheidet, alle Lachen und könnens dann nicht fassen, was für ein Schwein man doch ist. Es ist ein bisschen so wie Kierkegaards Entweder-oder Philosophie ins Besoffene übersetzen. Meine Gürtellinie ist da weit unten und Schmerzgrenze weit oben, so weit, dass ich jetzt keine Beispiele geben kann, ohne nicht mehr veröffentlicht zu werden. Aber ob ich lieber mit einem Reh oder einem Esel schlafen würde, wenn ich müsste, wäre kein Problem für mich, zu sagen. Irgendwann kam dann aber die Frage auf, und sie kam von meiner Freundin, ob ich lieber meine Mutter oder sie umbringen würde, wenn ich denn müsste und ich war baff. Sprachlos. Geschockt. Stand vor der schwierigsten Frage, die ich je zu beantworten hatte. Einem Scheideweg. Auch, wenn ich beide manchmal umbringen möchte. Ich rauchte schwer und antwortete erst nach einer Weile. Heute weiß ich, dass meine Antwort die richtige gewesen ist. Ich bin darüber hinweg. Was hätten sie denn getan? Es sieht ja ganz so aus, als ob meine Freundin, die Liebe meines Lebens wird. Danach käme nichts mehr. Und ja, wir wollten auch nicht, dass es so weit kommt. Mit ihr verbringe ich die schönsten und schlimmsten Stunden und Stunden, in denen wir besser heimgehen sollten. Sie liebt mich, weil ich für sie der Beste bin, den sie kennt, und seit sie mich liebt auch der beste, von allen die sie noch nicht kennt. Bei aller romantischen Notwendigkeit beruht das auf knallharten Kriterien, eine solche Beziehung ist arbiträr. Aber die Liebe einer Mutter ist etwas Einzigartiges. Sie ist Bedingungslos. Dafür kann man der größte Trottel sein. Ich weiß, dass sie mich im Gefängnis besuchen würde, wenn ich meine Freundin umbringen würde. Meine Freundin würde das umgedreht nicht tun. Meine Mutter hat mir das Leben geschenkt, ich war neun Monate in ihr, nicht nur eine Stunde. Sie versteht mich und fühlt mich und kennt mich, wie nichts und niemand auf der Welt. Manchmal zu gut, wie das mit Müttern eben ist. Sie reflektieren einen, man spiegelt sich in ihnen wider, vor allem jene Dinge, die einem, an einem selbst, am meisten auf den Sack gehen. Bei ihr sind das Obsessionen, die daraus resultieren, dass sie versucht ein zu guter Mensch zu sein. Sie ist eine so wundervolle Frau und ein lieber Mensch, eine erfolgreiche Kuratorin, eine gute Mutter und ein noch besserer Freund, aber alle zur gleichen Zeit. Emanzipation ist auch nicht leicht, sagt sie dann. Andere gut von sich denken zu lassen, damit man es dann selbst auch von sich tut, aber was sag ich. Die Geschichte meiner Mutter ist die Geschichte von mir. Ich sehe ihre Bescheuertheit, sie meine. Unser Charme wirkt bei uns nicht. In uns beiden ist eine Unsicherheit verankert, ein Urzweifel, eine Art Antiselbstgefälligkeitsautomatik, die uns mit beiden Beinen auf den Boden stellt und zu Leistungen zwingt, die eine Aura schafft, die das alles nicht sichtbar macht. Eigentlich keine schlechte Mischung. Harte Schale, weicher Kern. Außerdem denken wir sehr schnell, dass wir dieses oder jenes sind und wenn wir etwas tun, stellen wir uns vor wir würden es nicht tun und umgekehrt. Wir können zum Beispiel sehr schnell denken, dass wir Alkoholiker sind, obwohl wir nur jeden Abend trinken und nur Wein und nur zum Essen und ich das immer nur so übertrieben darstelle, weil ich diesen dämlichen Gedanken durchbrechen will. Das fühlt sich am Anfang erst mal schlecht an, aber genauso muss es sein, und mit jedem Mal, mit dem man es schreibt, fühlt es sich weniger schlecht an, bis man […]

OBSESSION

OBSESSION

Diese Geschichte beginnt wie alle Geschichten auf der Rückbank eines türkischen Taxis. Im Stau. Als Fortsetzung von einer, die noch nicht geschrieben wurde, aber fast fertig notiert ist. Vorausgesetzt, meine Gedanken flackern weiter so über die Seiten. Angezündet von plötzlichen Tankstellen und dem reinleuchtenden Licht vorbeirauschender Straßenlaternen, Parfümwerbung, die verschleierten Frauen Freiheit verspricht und Ampeln, am dramatischsten die Farbe Rot. Manche Notizen sind mit einem schönen schweren Kuli gemacht, im Dunkeln, im Regen, im Streit und im Schnee; sind schwarz oder blau, unwichtig, affektiert, unleserlich und neurotisch. Andere lange her, haben viele Notizbücher überstanden, wurden hundertmal abgeschrieben, sind nie zu Sätzen geworden, wären ein Buch wert gewesen. Heute nichts erlebt, Manuskripte versandt und rumgelaufen, zum Beispiel. Sie sagen mehr über Situationen aus, in denen sie gemacht wurden, als darüber, was von diesen Situationen in ihnen steht. Und zwischen ihnen, da liegen Wochen, Adressen, Länder, Krisen, Narkosen, Offenbarung. Daran ist Zeit schuld. Koordinierte Weltzeit plus drei minus zwei. Vergangene, mitteleuropäische Zeit, mit ihren Umstellungen und Überschriften und Erkenntnissen und Flugzeugen, vor allem die Flugzeuge, gottlos und luftleer, nicht mehr hier, aber auch noch nicht da, lange schon keine Straßenlaterne mehr. Flugzeuge reißen das Leben in Stücke, trennen Momente voneinander, indem sie Augenblicke verbinden, die gar nichts miteinander zu tun haben. Nach jedem Start ein neues Kapitel, da reicht kein Absatz mehr. Zu viel Leben, in dem ich es mit Wirklichkeit aufnehmen muss, ihr hinter herschreibe, bevor ich, vom Glühwein angeschossen, auf der Weihnachtswatte vorm Fernseher zum Erliegen komme. Resignation, die Schweiz von oben, wie ein schmelzendes Schaf, das wenigstens noch von richtigen Tigern gefressen werden möchte. Einmal brauchte ich Urlaub, ging ohne Notizbuch in den Wald, kurz davor, mir meine Gedanken mit einem Zweig in die Haut zu ritzen. Meine Gedanken verfolgen mich und ich verfolge meine Gedanken, bis auf den Grund des Denkens, will ich denken. Vom Konkreten ins Abstrakte, bis an das Ende der Vorstellungskraft, bis es nur noch ums Verfolgen geht. Das Leben sprudelt als ewige Quelle aus mir heraus, aus allem und jedem, sprudelt mehr, als man trinken oder stauen oder stilllegen kann, oder was man sonst noch so mit Quellen macht. Sie droht meine Welt zu fluten, noch bevor sie zur poetischen Erinnerung von der Welt geworden ist, die mich als Arche durch die Flut von Ereignissen trägt. Denn, was ich da von der Welt fühle, ist wahrer und falscher als die Welt und was ich mir einbilde, zu leben, doch überlebenswichtiger, als alles, was ich erlebe. Einbildung ist das Wahre am Lügen, stimmt, und doch ist nichts Zufälliges an solchen Momenten und ihren Einbildungen, nichts Austauschbares, nur viel Unkenntnis von Ursache, steht hier, zwischen in Unordnung geratenen Gefühlen und Versuchen, meinem Ideal von Leben näher zu kommen. Anstrengend, oder? Ich freue mich auch schon auf weiter unten, da geht’s um Nutten und Bürgerhäuser. Dranbleiben! Bis dahin Buchhaltung führen, über Gefühle, Gedanken, Gesten. Aus Angst mich zu verpassen. Wie kann man sich verlassen, darauf, dass alles so passieren wird, wie es am Ende geschrieben […]